Philipp Kause
Mein Konzert des Jahres war Marina Satti open-air im Sonnenuntergang. Die griechische ESC-Kandidatin, Self-Producer und witziger Visual Artist, zog ihre Show weitgehend auf Griechisch durch, mit ein paar englischen Ansagen. Ihr wilder Electropop, der Trap und Dubstep mit traditionellen hellenischen Instrumenten kreuzt, ist unglaublich unterhaltsam. Flüssig steuerte sie durch ihr stark choreographiertes 90-Minuten-Set mit ihren Ko-Tänzerinnen und sprach mehrere Generationen an. Auf einem ansonsten von viel Kommen und Gehen des Publikums gekennzeichneten Festival mit acht Bühnen war sie der Ruhepol, bei dem es die meisten Leute anderthalb Stunden lang aushielten.
Nebenbei zeigte sie mir, wie viele Jugendliche mit griechischem Migrationshintergrund in meiner Stadt wohnen und sie frenetisch feiern. Es war wie bei der Beatlemania. 50 Minuten lang versuchten zirka 250 Teenager, durch Absperr-Zäune zu lugen und an den Fenstern des Backstage-Gebäudes hochzuspringen, alle in der Hoffnung auf ein Insta- oder Snap-würdiges Selfie mit ihrem Idol. Erst dann gab die Security klein bei.
Mein Event des Jahres war ein anderes Festival, das Reeperbahn-Festival. Dankeschön an dessen Team, an die zahlreichen Kolleg:innen aus der Plattenindustrie sowie an alle Artists, die mir dort Interviews gegeben haben. Mein Interview des Jahres war woanders und dauerte sechs Stunden. Kaum zu fassen, wie viel in einem Debütalbum und in einem 28 Jahre jungen Leben stecken kann. Die Frontfrau von Margarita And The Boys versucht von Hannover aus, Grunge in Deutschland wieder zu etablieren. Ich warte immer noch auf den Vinyl-Release von "Back To Bloom". Ranking-technisch, fiel das Album vom Ende November 2023 dem Jahreswechsel zum Opfer.
2024 war in meinen Ohren das schwächste Musikjahr insgesamt seit ... sagen wir ... 2008. Am Ende trug auch noch der Bayerische Rundfunk Fritz Egners Autorensendung "Fritz and Hits" zu Grabe. Seit 1977 war der Quizmaster und Soul- und Funk-Freak beim BR, der ihm nun eine Kündigungsfrist von zwölf Stunden gewährte, der Rauswurf wurde per öffentlicher Pressemitteilung zugestellt. Begründung: Man wolle rund um die Uhr nur mehr die "Lieblingshits der Bayern 1-Hörer" senden, da passe er nicht dazu. Sowas ist doch eine Schande.
Aber der passende i-Punkt auf ein nicht so dolles Musikjahr in meiner Bubble. Erstens, es reicht mit den ganzen miesen langweiligen Drum-Programmings in mittlerweile fast allen Genres, ich kanns nicht mehr hören. Zweitens, liebe Newcomer, zieht mal mehr politische Lieder in Erwägung, statt der ganzen larmoyanten Nabelschau. Drittens befindet sich eines meiner Lieblings-Genres, der Reggae, tief in der Krise. Genre-übergreifend gilt: Artists, die mich schon mehr begeisterten, lieferten kürzlich noch besser ab als 2024. Ein einziges neues Album bewertete ich mit 5/5, den Underground-Release von Paula Coles "Lo", zufällig online entdeckt, doch hier wurde ich von der Redaktion überstimmt, so dass auch dieses Review mit 4/5 rauskam. So wirklich rundum Zeitloses habe ich nicht zu empfehlen.
Jane Weavers Platte hatte die größte Abwechslung und mit nur tollen Tracks die höchste Trefferquote in einer Tracklist. Soap&Skin bot die 'musikalischste' Scheibe, bei der mich einfach die Perfektion und gleichzeitig schauspielerische Ausdruckskraft beeindruckt. 070 Shake legte mit "Petrichor" das überraschendste und am meisten non-konforme Werk vor, dicht gefolgt von Noga Erez, bei der zwar alles weniger rund, dafür bunt und catchy war, und ein bisschen zugänglicher produziert.
MC Lyte vermarktete ihr Comeback semiprofessionell bis eigentlich gar nicht und verschob ihr lange angekündigtes "1 Of 1" so geheim, dass nicht einmal ich es mitbekam, obwohl ich die Einleitung zur Review schon geschrieben hatte und ständig ihre Social Media aktualisierte. Stimme, Qualität der Reime, Match-Passung der Feature-Gäste und Deftigkeit des Inhalts machen dieses - nur digital erschienene - Werk für mich so wertvoll. Es ist ein nett, aber glasklar formulierter Tritt in die Fresse des (oft unfairen, chaotischen) Musikbusiness.
Zum Schluss noch mal eine kleine digitale, posthume Verbeugung vor Kris Kristofferson, der im Herbst in den Country-Heaven abhob. Und happy Birthday nachträglich an Max Romeo, der Ende November runde 80 wurde!
- Various Artists - Can't Seem To Come Down: The American Sounds Of 1968
- Black Pumas - Live From Brooklyn Paramount
- Paula Cole - Lo
- Ami Warning - Auszeit
- Marc Broussard - Time Is A Thief
- MC Lyte - 1 Of 1
- Jane Weaver - Love In Constant Spectacle
- Previous Industries - Service Merchandise
- Fantastic Negrito - Son Of A Broken Man
- Noga Erez - The Vandalist
- Soap&Skin - Torso
- 070 Shake - Petrichor
- Katarina Pejak - Pearls On A String
- Evelinn Trouble - Season Indicators
- Nadia McAnuff & The Ligerians - Shelter From The Storm
- Tierra Whack - World Wide Whack
- Chuck Prophet With ¿Quiensave? - Wake The Dead
- The The - Ensoulment
- Michael Kiwanuka - Small Changes
- Eddie 9V - Saratoga
- La Luz - News Of The Universe
- Lizzie No - Halfsies
- Shannon And The Clams - The Moon Is In The Wrong Place
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