Zwei Super-Fans zerren Zeitzeugen ans Licht, die erklären, wie die einst spleenige Elektropop-Band 1990 eine Zeitenwende einläutete.
Konstanz (mis) - Egal, von welcher Seite der Geschichte man sich Depeche Mode annähert: Es gibt die Karriere von Dave Gahan, Martin Gore, Andy Fletcher und Alan Wilder vor und nach "Violator". Davor: Spleenige Elektropop-Band mit einem Mitglied, dessen äußeres Auftreten nicht gerade heteronormative Rollenbilder bedient. Danach: Die Band mit dem Liegestuhl-Video und der meistverkauften 12"-Single in der Geschichte von Warner Brothers. Es ist daher naheliegend, sich dem Phänomen dieses für Depeche Mode und die frühen 1990er Jahre wegweisenden Werks auf Buchlänge zu widmen.
Was die vier Hauptdarsteller retrospektiv für erinnerungswürdig halten, weiß man seit der DVD-Doku, die Teil der Re-Release-Reihe 2013 war. In "Halo: Die Geschichte hinter Depeche Modes Albumklassiker Violator" (Hanibal, deutsch, 248 Seiten, 25 Euro) gehen die britischen bzw. schottischen Devotees Kevin May und David McElroy auf Spurensuche und treffen nicht nur auf ihre eigene Jugend, sondern befragten auch unzählige Mitstreiter*innen rund um die damalige Albumproduktion. Und die Namen können sich sehen lassen: Zwar fehlen Mute-Chef Daniel Miller und die befreundete Support-Band Nitzer Ebb, dafür ist Album-Produzent Flood dabei, dessen Vorgänger Gareth Jones, der die DM-Berlin-Trilogie zwischen 1983 und 1986 betreute, Mixmaster François Kevorkian, Fotograf Anton Corbijn sowie Toningenieure, Studiomusiker, PR-Agenten und Coverdesigner.
May und McElroy wissen, wovon sie sprechen: Sie besuchten 1990 bzw. 1993 erstmals Konzerte der Band, McElroy betreibt den DM-Blog "Almost Predictable Almost" und May forscht zwar mittlerweile im Bereich psychischer Erkrankungen, war zuvor aber 30 Jahre lang Journalist. Hiervon legt "Halo" leider zu selten Zeugnis ab: Die Sprache holpert zumindest in der deutschen Fassung an manchen Stellen enorm und versprüht die Eloquenz eines Wikipedia-Artikels. Bis das Buch mal an Fahrt aufnimmt, braucht es einige Zeit, da die Autoren die Vorgeschichte des Albums zwar richtigerweise beim legendären "101"-Konzert in Kalifornien zwei Jahre zuvor ansetzen, aber einen überlangen Faktencheck präsentieren, den wohl jeder Fan, die/der die Zielgruppe dieser Veröffentlichung markiert, auswendig kennt. Viele Ereignisse tauchen in den Rückblenden der Gäste obendrein später ein weiteres Mal auf. Ähnlich fragwürdig sind die wenigen Schwarzweiß-Abbildungen, die ungefähr den 1-Megapixel-Charme von Uralt-Handys aufweisen.
Sind diese ästhetischen Stolperfallen überwunden, fungiert "Halo" wie ein großes Nerd-Quiz. Dass die Bandmitglieder an Chef-Komponist Gore 1989 mit der Bitte heran traten, die Demos offener zu gestalten, dürfte weithin genauso bekannt sein wie die Tatsache, dass die Basildon Boys zu diesem Zeitpunkt noch eine verschworene Einheit bildeten. Mit dem Wissen um die späteren Entwicklungen innerhalb der Band betonen sämtliche Beteiligten unisono, dass die Arbeit an "Violator" vor allem von Spaß und jugendlicher Aufbruchsstimmung geprägt war und nie dem nahe kam, was es später wurde: Ein Job. Zwar deutete sich die Trennung von Sänger Gahan und seiner ersten Frau Joanne, die damals den Fanclub betreute, zunehmend an, doch bei den Aufnahmen 1989 in Mailand und Dänemark lebten die vier Endzwanziger ein männerbündlerisches Rundum-Sorglos-Life mit einer seit Jahren eingespielten Crew aus Freunden und Vertrauten. Ihr Glück war: Auch die neuen Gesichter fügten sich perfekt ins Puzzle ein. Tagsüber arbeitete man mit dem jungen Produzenten Flood an einem neuen Sound, abends wurde ordentlich Party gemacht.
Selbst die damals erst dreijährige Partnerschaft mit Videoregisseur und Fotograf Corbijn (er war ab dem 1986er Video zu "A Question Of Time" an Bord) fußte schon auf blindem Vertrauen, wie Video-Produzent Richard Bell an einer Stelle verrät: "Vor 'Enjoy The Silence' hatten wir ein großes Meeting. Es wurde offiziell im Terminplan eingetragen und es bestand Anwesenheitspflicht. Wir wussten alle, dass es ein wichtiger Song war. Die Band fragte: 'Was machen wir, Anton?' Und der sagte: 'Was mit einem König auf einem Liegestuhl.' - 'Super'. Und damit war das Meeting zu Ende. Ich dachte damals: Hä? Das sollte doch eine große Besprechung sein." Die Anekdote steht sinnbildlich für die gelöste Stimmung, die während der kompletten Aufnahmen herrschte: Alle Beteiligten wussten, dass Gores Demos einen neuen Karriereschritt einleiten könnten, alle gingen bis ans Limit, um dieses Ziel zu erreichen, ohne dass hierarchische Strukturen die eigene Gestaltungsfreiheit einschränkten.
Soundtüftler François Kevorkian erhält in "Halo" endlich verdientermaßen die Sänfte, die ich ihm für seine detailversessene Filigranarbeit einst in meiner Meilenstein-Review herbei wünschte. Als Herr der Effekte, Equalizer und Kompressoren wirkte der New Yorker auch auf italienische Toningenieure wie ein Alien, was eines Abends zur Folge hatte, dass ein Mitarbeiter versehentlich beim routinemäßigen Spurenlöschen für den Folgetag das Leadriff von "Personal Jesus" erwischte. Bis zwei Uhr morgens dauerte die diffizile Rekonstruktion, rechtzeitig bevor Kevorkian davon Wind bekommen konnte. Der Mann, der maßgeblich aufgrund seiner Arbeit am 1986er Kraftwerk-Album "Electric Café" verpflichtet wurde, hatte zur Freude der Anwesenden auch einige Anekdoten der öffentlichkeitsscheuen Düsseldorfer zu erzählen. So habe er fassungslos miterlebt, wie Hütter und Schneider die Anfrage von Michael Jackson ablehnten, "The Robots" zu covern. Wie weit der technische Fortschritt seit 1990 fortgeschritten ist, belegt die Erinnerung an die spontane Studio-Idee, Samples mit Predigerstimmen in einen "Personal Jesus"-Mix zu integrieren. Die Samples mussten telefonisch in Amerika angefragt werden und kamen dann via Fed-Ex nach gerade mal zwei Tagen in Mailand an - auf Kassette.
Dank der verschiedenen Sichtweisen handelnder Personen auf die Arbeit am Album und die Vorbereitung auf die auch wegen Corbijns Videoinstallationen bahnbrechende "World Violation"-Tournee liefert "Halo" teilweise neue, interessante Einblicke. Ihrer Suche nach Zeitzeugen gingen die Autoren durchaus beflissen nach: Eine Tänzerin aus dem "Halo"-Video oder die Tochter des US-Autokino-Besitzers, wo der Clip zu "World In My Eyes" gedreht wurde, muss man erst mal ausfindig machen.
Selbst Billie Ray Martin, die Sängerin der damals auf der kompletten Tournee ausgepfiffenen Supportband Electribe 101 trieben sie auf. Sie wundert sich offenbar heute noch, warum ihr lieblicher Cocktail-House-Sound beim elektronischen Genre-Publikum nicht ankam. Vor allem im Kontext der DM-Supportband-History mit Nitzer Ebb und Front 242 wirkte der Feelgood-Soul von Electribe 101 einfach nur irritierend, vom Bandnamen angefangen. Diese Wahl darf als einer der wenigen Fehler gelten, der Depeche Mode in dieser Zeit unterlief. Abgesehen von der Entscheidung, von dieser Tournee keinen Mitschnitt zu veröffentlichen, natürlich. Zwei Jahre nach dem Livealbum "101" sah man hierfür einfach absolut keine Notwendigkeit. Dabei fungiert "World Violation" dank der Erfolge des Albums und der Singles viel eher als eine Zeitenwende in ihrer Karriere.
Halo: Die Geschichte hinter Depeche Modes Albumklassiker Violator*
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