Weil eine Untersuchung den Verdacht der Chartsmanipulation zu bestätigen scheint, nimmt der Verband der Musikwirtschaft sechs CDs aus der Hitliste.

Berlin (mma) - Es entbehrt nicht einer gewissen Scheinheiligkeit, wie die Musikwirtschaft mit publik gewordenen Skandalen umgeht. Intern nutzt das Business alle sich bietenden Kanäle, um den Erfolg ihrer Künstler zu garantieren. Die Rotation in TV und Radio lässt man sich einiges kosten, und auch das Aufkaufen großer CD-Bestände eigener Signings für Chartsplatzierungen ist inoffiziell gang und gäbe. Wenn es dann tatsächlich jemanden beim Manipulationsversuch erwischt, zeigen alle anderen mit dem Finger auf das schwarze Schaf. Aktuell dient Labelchef David Brandes als Bauernopfer. Der Produzent der Grand Prix-Teilnehmer Gracia und Vanilla Ninja ließ vermutlich deren CDs aus diversen Filialen einer Elektromarktkette aufkaufen (laut.de berichtete).

Nun folgt die Pressemitteilung des Bundesverbandes der Phonographischen Wirtschaft. Die Untersuchung des Manipulationsvorwurfs durch das Marktforschungsunternehmen Media Control, das im Auftrag des Verbandes die Charts erstellt, erhärtete den Betrugsverdacht. Als Konsequenz streicht man jetzt öffentlichkeitswirksam sechs Singles bzw. Alben aus der Chartsstatistik. Betroffen sind Gracia ("Run & Hide"), Vanilla Ninja mit zwei Alben ("Traces Of Sadness", "Blue Tattoo") und zwei Singles ("I Know", Blue Tattoo") sowie der Dance-Act Virus Incorporation ("Heaven Is A Place On Earth").

Die in der Geschichte der Chartsermittlung einmalige Sofortmaßnahme gilt zunächst für drei Wochen, weitere Nachforschungen folgen. Auf die Teilnahme von Gracia und Vanilla Ninja am Eurovision Song Contest wirkt sich der Ausschluss nicht aus.

Produzent Brandes nennt die Brandmarkung auf der Webseite seines Labels Bros Music heuchlerisch. Für ihn "scheint belegt, dass nicht nur der Manager der Beatles, Brian Epstein, 10.000 Singles hat kaufen lassen". Vielmehr "sei der Kauf von eigenen Produkten, auch bei den Großen der Branche - zu denen Bros Music sicher nicht gehört - absolut gängig".

Tatsächlich haben die rückgängigen Verkaufszahlen die Krise der Hitparaden verschärft. In Amerika stößt nach 40 Jahren ein Rapper wie 50 Cent mit seinen Single-Platzierungen in den Top Ten die Beatles vom Rekord-Thron. Der deutsche Markt dagegen rechtfertigt kaum noch die wöchentliche Präsentation der hundert Besten, seit längerem denkt die Branche über eine Halbierung nach.

Auch viele Bands beklagen die nicht gerechtfertigte Bedeutung der Charts-Platzierungen. "Man erkennt die Charts als System, das sich an allen Enden gegenseitig füttert", klagte jüngst Chef-Heldin Judith Holofernes in einem Spiegel-Interview. "Sie bilden Verkaufszahlen ab, die belegen, dass es nur noch einen Bruchteil der Bevölkerung interessiert, Platten zu kaufen. Das Ergebnis wird aber für eine Viva-Rotation wichtig und steuert weitere Platzierungen."

Dabei spielt auch der Hüter des Grals selbst mitunter eine zweifelhafte Rolle. Das "automatisierte Zählsystem" von Media Control habe "Klumpungen" erkannt, schon bevor Sat 1 über die Manipulationen berichtet habe, versicherte Geschäftsführerin Ulrike Altig gegenüber laut.de. Man habe beschlossen, "diese auffälligen Häufungen nicht in die Charts-Statistik einfließen zu lassen." Seltsame Strategie: erst zu versichern, man habe den Betrugsversuch abgewendet, um wenige Tage später mit den gegenteiligen Ergebnissen einer internen Untersuchung herauszuplatzen.

Wie viele CDs eine Plattenfirma tatsächlich hamstern muss, um die Charts zu entern, bleibt nebulös - vermutlich reichen einige Hundert, um in die Album-Top 100 zu gelangen. Auf Anfrage von laut.de beschied Media Control, über Verkaufszahlen keine Aussagen zu machen.

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