Was ist schlimmer als eine mehrstündige ESC-Show? Zwei mehrstündige ESC-Shows: beide Veranstaltungen in der Zusammenfassung.

Hamburg/Köln (dük) - Ein bisschen ist der ESC in diesem Jahr vergleichbar mit einer Hydra, dem schlangenähnlichen Wesen aus der griechischen Mythologie. Corona hat ihm zwar den Kopf abgeschlagen, aber an dessen Stelle wuchsen gleich zwei neue nach, denn am Samstagabend duellierten sich die ARD und ProSieben mit zwei ESC-Sendungen zur selben Zeit. Schon der Hauch der Hydra ist tödlich. Tödlich für die Nerven sind auch vier Stunden ESC-Wahnsinn am Stück - vor allem, wenn man zwei Sendungen gleichzeitig anschaut.

Der Startschuss für beide Alternativen fällt pünktlich um 20.15 Uhr. In der ARD heißt Barbara Schöneberger die Fernsehzuschauer im mit Kussmündern übersätem Kleid zum "Original" aus der Hamburger Elbphilharmonie willkommen, während auf ProSieben die frühere ESC-Gewinnerin Conchita Wurst zur Begrüßung ein Medley aus mehreren Siegersongs anstimmt. Moderationspartner Steven Gätjen gesellt sich dazu, die meiste Zeit getrennt durch eine Glasscheibe. Weder im Ersten noch auf ProSieben ist Publikum vor Ort zugelassen.

Präsentation der Länder auf ProSieben stumpf, aber kurzweilig

Bei der Vorstellung der Länder vor jedem einzelnen Auftritt geht der erste Pluspunkt an ProSieben. Die alles andere als intellektuellen, aber humorvollen MAZen, mit der ProSieben kurz Eigenheiten der 15 Teilnehmerländer persifliert, geraten unterhaltsamer als die Rückblicke auf die ESC-Historie der zehn Nationen, die die ARD ins Rennen schickt.

Clips wie der von Günther Oettingers unbeholfenen Englisch-Versuchen, den ProSieben vor dem Auftritt des Vereinigten Königreichs zeigt, sind einfach immer noch lustig. In der Vorstellung von Kroatien ist von den schönsten Klippenspringern der Welt die Rede. Das veralbern sie mit einem miserablen Bauchklatscher von Elton. Luka Modrics Ähnlichkeit mit dem AfD-Brüllwürfel Beatrix von Storch ist außerdem amüsanter als Videos von früheren ESC-Auftritten.

Für den Free European Song Contest hat Stefan Raab 15 bekannte Sänger engagiert, die irgendeine Verbindung zur Nation haben, für die sie auftreten. Die ARD macht da weiter, wo der abgesagte ESC aufgehört hat und lässt die zehn besten Kandidaten, die sich zuvor im Halbfinale durchgesetzt hatten, gegeneinander antreten.

Die ersten Enttäuschungen in der ARD

Fast zeitgleich betreten die ersten Künstler auf beiden Sendern die Bühne. Ilse Delange vertritt die Niederlande souverän auf ProSieben, während in der ARD ein süßes, aber etwas schief singendes Folk-Duo für Dänemark ins Rennen geht. Schon jetzt dürfen Zuschauer abstimmen. Ein unfairer Vorteil für die Teilnehmer, die als Erstes dran sind? ProSieben macht es jedenfalls anders und öffnet die Leitungen erst dann, wenn alle Kandidaten auf der Bühne gestanden haben.

Während auf ProSieben Eko Fresh rappend und in Begleitung eines Autotune-Sängers und eines Saxophon-Spielers die Türkei vertritt, sorgt die ARD für die erste Enttäuschung: Für Aserbaidschan gibt es keinen Live-Auftritt im Studio, sondern nur ein eingespieltes Musikvideo. Nur ungefähr die Hälfte der zehn ARD-Finalisten präsentiert die Songs live in der beinahe leeren Elbphilharmonie, der Rest besteht aus Musikvideos und Aufzeichnungen von Live-Auftritten. Ein weiterer Grund, warum das Konzept der ESC-Alternative der ARD etwas fragwürdig erscheint.

Auf ProSieben trällern Kandidaten wie Sion Hill für Irland, Glasperlenspiel für Polen und Mike Singer für Kasachstan vor sich ihn. Sarah Lombardi, die mit einem sehr abgekupferten und nach Gustavo Lima klingenden Sommerhit Italien repräsentiert, hat den Song scheinbar noch schnell für die Show fertiggestellt und direkt zum Download und Stream bereitgestellt. Warum sie auf Spanisch singt, aber Italien vertritt? Keine Ahnung. Die Hebefigur am Ende gerät gerade so unfallfrei, Social Distancing nimmt sie anscheinend nicht ganz so ernst.

Je länger sich die Sendung auf ProSieben hinzieht, desto prominenter werden die Kandidaten. Stefanie Heinzmann für die Schweiz überrascht mit kurzgeschorenen, blonden Haaren, Nico Santos präsentiert einen Song von seinem letzten Album, Max Mutzke im Astronautenkostüm vertritt den Mond bei seiner ersten ESC-Teilnahme und Helge Schneider, nicht Stefan Raab, geht für den Gastgeber Deutschland ins Rennen.

Währenddessen haut Barbara Schöneberger einen Schenkelklopfer nach dem anderen raus und führt etwas holprige Interviews mit den Kandidaten. Darunter auch die zuvor favorisierten, sehr souveränen Isländer und The Roop aus Litauen, die mit ihrem Song "On Fire", dem merkwürdigen Outfit des Sängers und den ebenso merkwürdigen Tanzmoves alles richtig machen.

Das selbsternannte "Original" in der ARD wartet übrigens auch mit dem Kommentatoren-Veteran Peter Urban auf, der allerdings viel zu selten zu Wort kommt. Auf Nachfrage von Schöneberger bezeichnet er das Teilnehmerfeld als "starken Jahrgang" und sieht die Russen mit ihrem abstrusen Auftritt sehr weit vorne.

Strecken heißt das Zauberwort

Nach ungefähr 300 Schnelldurchläufen, den Nachrichten, dem Wort zum Sonntag und 300 weiteren Schnelldurchläufen gibt Schöneberger dann das Ergebnis bekannt. Interessanterweise landet beispielsweise Dänemark bei der Fachjury auf dem letzten Platz, bei den Zuschauern aber unter den ersten drei. Ob das daran lag, dass die Dänen den Anfang gemacht hatten und damit viel mehr Zeit zum Voten war? Die Punkte der Fachjury und der Zuschauer werden zusammengerechnet, heraus kommt Litauen als Gewinner des Abends. Sehr unspektakulär erhält der Sänger eine Pokalnachbildung und gibt den Siegertitel nochmal zum Besten.

Auch ProSieben bekleckert sich nicht mit Ruhm, nachdem alle Kandidaten einmal aufgetreten waren. Als Zuschauer fragt man sich an dieser Stelle, wie um alles in der Welt ProSieben diese Sendung noch um weitere zwei Stunden strecken will. Die Antwort lautet Werbung, sehr viel Werbung. Und natürlich Schnelldurchläufe.

Die Moderatoren, zwischen denen wenig bis gar keine Chemie besteht, erklären außerdem noch einmal das Voting-System, doch so richtig verständlich ist es noch immer nicht. Schon klar, in Deutschland, Österreich und der Schweiz entscheiden die Zuschauer und für das eigene Land darf man nicht abstimmen. Aber wer entscheidet in den restlichen Ländern? Während die Teilnehmer in ihre Landesflaggen eingehüllt nebeneinander rumsitzen und Helge Schneider dort wirkt wie eine Legende unter Eintagsfliegen, schalten Wurst und Gätjen nacheinander zu den Verkündern der Punkte.

Auch auf den Sozialen Netzwerken, in denen vor allem der Free ESC heiß diskutiert wird, fragen sich die Nutzer, wer denn eigentlich für die Punktevergabe zuständig ist. ProSiebens vage Antwort lautet 'Sympathisanten', bei denen es sich allem Anschein nach tatsächlich um die Punkteverkünder handelt: darunter die ausgewiesenen Experten Lukas Podolski für Polen, Hakan Calhanoglu für die Türkei oder Michel Hunziker für Italien.

Das zieht und zieht sich und wird nochmals durch Werbung unterbrochen. Für die Entscheidung sorgen am Ende Heidi Klum und Tom Kaulitz, die vom Balkon aus im sonnigen Los Angeles das Resultat des deutschen Publikums verkünden. 12 Punkte vergibt es an den Mond und Max Mutzke, doch weil auch Spanien 8 Punkte erhält, heißt der Sieger auf ProSieben am Ende Nico Santos. Helge Schneider verpasst knapp das Treppchen, auf dem schließlich Max Mutzke und Ilse Delange landen.

Nach knapp vier Stunden ist damit auch auf ProSieben die Entscheidung gefallen. Bei den Quoten hatte der Privatsender übrigens die Nase vorn. Wie zu erwarten war, interessierte sich vor allem die jüngere Zielgruppe mehr für Raabs ESC-Alternative, während die ARD bei den älteren Zuschauern vorne lag. Gute Nachrichten gibt es für jene, die Gefallen an der ESC-Alternative von ProSieben gefunden haben, denn auch im nächsten Jahr will der Sender den Free ESC wieder veranstalten.

Fotos

Helge Schneider, Eko Fresh und Stefanie Heinzmann

Helge Schneider, Eko Fresh und Stefanie Heinzmann,  | © laut.de (Fotograf: Jasmin Lauinger) Helge Schneider, Eko Fresh und Stefanie Heinzmann,  | © laut.de (Fotograf: Jasmin Lauinger) Helge Schneider, Eko Fresh und Stefanie Heinzmann,  | © laut.de (Fotograf: Jasmin Lauinger) Helge Schneider, Eko Fresh und Stefanie Heinzmann,  | © laut.de (Fotograf: Jasmin Lauinger) Helge Schneider, Eko Fresh und Stefanie Heinzmann,  | © laut.de (Fotograf: Jasmin Lauinger) Helge Schneider, Eko Fresh und Stefanie Heinzmann,  | © laut.de (Fotograf: Jasmin Lauinger) Helge Schneider, Eko Fresh und Stefanie Heinzmann,  | © laut.de (Fotograf: Jasmin Lauinger) Helge Schneider, Eko Fresh und Stefanie Heinzmann,  | © laut.de (Fotograf: Jasmin Lauinger) Helge Schneider, Eko Fresh und Stefanie Heinzmann,  | © laut.de (Fotograf: Jasmin Lauinger) Helge Schneider, Eko Fresh und Stefanie Heinzmann,  | © laut.de (Fotograf: Jasmin Lauinger) Helge Schneider, Eko Fresh und Stefanie Heinzmann,  | © laut.de (Fotograf: Jasmin Lauinger) Helge Schneider, Eko Fresh und Stefanie Heinzmann,  | © laut.de (Fotograf: Jasmin Lauinger) Helge Schneider, Eko Fresh und Stefanie Heinzmann,  | © laut.de (Fotograf: Jasmin Lauinger) Helge Schneider, Eko Fresh und Stefanie Heinzmann,  | © laut.de (Fotograf: Jasmin Lauinger) Helge Schneider, Eko Fresh und Stefanie Heinzmann,  | © laut.de (Fotograf: Jasmin Lauinger) Helge Schneider, Eko Fresh und Stefanie Heinzmann,  | © laut.de (Fotograf: Jasmin Lauinger) Helge Schneider, Eko Fresh und Stefanie Heinzmann,  | © laut.de (Fotograf: Jasmin Lauinger) Helge Schneider, Eko Fresh und Stefanie Heinzmann,  | © laut.de (Fotograf: Jasmin Lauinger) Helge Schneider, Eko Fresh und Stefanie Heinzmann,  | © laut.de (Fotograf: Jasmin Lauinger) Helge Schneider, Eko Fresh und Stefanie Heinzmann,  | © laut.de (Fotograf: Jasmin Lauinger) Helge Schneider, Eko Fresh und Stefanie Heinzmann,  | © laut.de (Fotograf: Jasmin Lauinger) Helge Schneider, Eko Fresh und Stefanie Heinzmann,  | © BMG/Subword (Fotograf: Hans Reuschel) Helge Schneider, Eko Fresh und Stefanie Heinzmann,  | © BMG/Subword (Fotograf: Hans Reuschel) Helge Schneider, Eko Fresh und Stefanie Heinzmann,  | © BMG/Subword (Fotograf: Hans Reuschel) Helge Schneider, Eko Fresh und Stefanie Heinzmann,  | © BMG/Subword (Fotograf: Hans Reuschel) Helge Schneider, Eko Fresh und Stefanie Heinzmann,  | © laut.de (Fotograf: Peter Wafzig) Helge Schneider, Eko Fresh und Stefanie Heinzmann,  | © laut.de (Fotograf: Peter Wafzig) Helge Schneider, Eko Fresh und Stefanie Heinzmann,  | © laut.de (Fotograf: Peter Wafzig) Helge Schneider, Eko Fresh und Stefanie Heinzmann,  | © laut.de (Fotograf: Peter Wafzig) Helge Schneider, Eko Fresh und Stefanie Heinzmann,  | © laut.de (Fotograf: Peter Wafzig) Helge Schneider, Eko Fresh und Stefanie Heinzmann,  | © laut.de (Fotograf: Peter Wafzig) Helge Schneider, Eko Fresh und Stefanie Heinzmann,  | © laut.de (Fotograf: Peter Wafzig)

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7 Kommentare mit 9 Antworten

  • Vor 3 Jahren

    Fand den Free ESC deutlich abwechslungsreicher und frischer, gerade weil er sich und das gesamte Format nicht ernst genommen, sondern stellenweise gar persifliert hat (groß: die Windmaschine bei Helge Schneider). Bestätigt mich wiederholt darin, dass Pro7 a) der einzige Privatsender ist, der was taugt und b) auch die ÖR in Punkto Entertainment deutlich in die Tasche steckt.

  • Vor 3 Jahren

    Die ÖR-Version hätte tatsächlich mehr Pep vertragen können und holperte - war dafür wie gewohnt werbefrei (!) und angenehm kurz (trotz 100 Schnelldurchläufen).
    (Mit anderen Worten: ich bin teil der alten Zielgruppe) :P

  • Vor 3 Jahren

    Die Einspieler vor den Auftritten waren teils wirklich TV Total zu besten Zeiten! ;-) Ausserdem hatten sie Helge Schneider!