Das Indie-Festival in Mannheim ging vorerst in die letzte Runde: The Streets, Tocotronic, Hot Chip, Faber, Gurr, Snail Mail u.a.
Mannheim (rnk) - Q1, O3, F3, E4. Nein, das sind nicht die Erfolgskoordinaten von Schiffe versenken oderdergleichen. Es handelt sich um Straßennamen in der Innenstadt von Mannheim, die Ortsunkundige in die Verzweiflung treiben. Die kurpfälzischen Einwohner sind natürlich hilfreich und klären auch ungefragt über dieses System auf, das anscheinend schon seit 1600 existiert.
Das ist die Vergangenheit der Stadt am Neckar, die Zukunft des Maifeld Derby steht derweil in den Sternen. Sicher ist die Pause 2020. Was danach passiert, ist offen. Es wäre schade um das kleine aber feine Festival, in unmittlbarer Nähe der SAP Arena und dem Pferde-Parcour-Gelände. Oranisator Timo Kumpf nimmt sich eine wohlverdiente Auszeit: Lasst uns also ein letztes Mal Maifeld feiern.
Die Neo-Grunger Gurr leiten am Freitagabend den Headliner-Reigen an der "Fackel-Bühne" ein. Die Nirvana-Cover fügen sich perfekt in das Set zwischen Melodie und Wut ein: Was hätte Kurt Cobain diese Band um Sängerin Andreya Casablanca und Gitarristin Laura Lee gefeiert! Smiley-Luftballons gibt obendrauf.
Prädikat: besonders pornös
Gemächlicher geht es bei bei der australischen Indiepop-Band Parcels zu. Jules Crommlin gebührt das Prädikat 'besonders pornös' für seinen Schnauzbart, auch sonst schnurrt der Disco-Sound wie aus einem Soft-Erotik-Film der 70er auf die tanzende Menge nieder. Auch die restlichen Bandmitglieder sehen mit lockigem Wallehaar aus wie ein Poster aus einer älteren Bravo. Ist aber alles noch viel geiler, als es sich hier liest.
"Fuck, Fuck, Fuck, Cunt, Fuck". So schnell kommt man aus den Seifenblasen-Vibes heraus und kriegt die wütende Gemaule von Jason Williamson ins Gesicht gespuckt. Bleibt zu hoffen, dass die Electro-Punks von den Sleaford Mods im Backstage-Bereich nicht auf die Hippies von den Parcels treffen. Kleine Info am Rande: Der besteht tatsächlich aus Pferdeställen. Andrew Robert Lindsay Fear, der stoische Typ neben dem Sänger, lässt sich gemütlich ein Bierchen schmecken. Seine Arbeit besteht live nur Laptop-Bedienen. Schon dreist, aber dann auch der große Kontrast zur nächsten Band.
Hot Chip stehen mit sieben Mannen auf der Bühne und lassen mit einer Lightshow das Zelt am Freitag abheben. Sie präsentieren auch Eindrücke vom Album "A Bath Full of Ecstasy", das nächsten Freitag erscheint. Aber im Gegensatz zu den ungewohnt langsamen Singles ist das Set treibend technoid. Ein Bad voll Schweiß vor der Heia.
Das Maifeld am Samstag
Thema Fooden. Auf dem Markplatz in Mannheim gibt es 'Fleisch vom Pferd'. Lecker! Ob eines der bemitleidenswerten Lebewesen einst stolz im Reitstadion galoppierte? Wer bei diesem Gedanken (sic!) Gewissenbisse hat, entscheidet sich für den veganen Burger, sogar den jetzt schon legendären Beyond Meat-Burger gibt es. Eine spontane Umfrage auf Instagram ergab zudem: 60 Prozent der laut.de-User halten Handbrot tatsächlich für Kult. Linus Volkmann, der am Freitag noch über diesen seltsamen Fetisch auf Festivals referierte, wird wohl gerade in sein neues Lieblingsgetränk '"Doppelherz Red Bull' weinen.
Überraschung! Überraschung!
Die Bombe platzt am frühen Morgen: AnnenMayKantereit spielen um 16 Uhr auf der Hauptbühne, was bei einigen für Unmut und bei extrem vielen Menschen für ausgelassene Freude sorgt. So voll hat man die Tribüne vor dem Parcours d'amour noch nie gesehen, teilweise hangeln sich Zuschauer nach oben um noch einen Blick zu erhaschen. Der Hype um die Jungs ist wohl doch nicht abgeklungen - ein gelungener Coup der Organisatoren!
Kate Tempest war schon einmal auf dem Maifeld, allerdings im Zuge einer Lesung. Wortreich ist auch ihr Auftritt zwischen Spoken Word und wütendem Rap. "The Book Of Traps And Lessons" erschien einen Tag vorher und wird auch auf der Bühne mit grimmiger Inbrunst performt. Die Probleme auf der Insel möchte man ja nicht haben.
Traurigkeit und dunkle Wolke
Für ein Sommerfestival geht es auch düster auf der Fackelbühne weiter. Der Himmel ist eigentlich strahlend blau, doch genau über der Bühne zieht sich nicht nur sprichwörtlich eine bedrohlich aussehende dunkle Wolkeansammlung zusammen. Wie vorbereitet für die schottische Shoegaze-Combo und gleichzeitig Lieblingsband von Robert Smith The Twilight Sad, die anfangs noch mit technischen Problemen kämpfen, aber trotzdem die Leute für sich einnehmen - am Schluß lächelt sogar Sänger James Alexander Graham.
Mosh bei Yassin
"Krass! Ihr habt ja richtig Bock?!?", wundert sich Yassin. Er sei über das Gelände geschlendert und fühle sich unter den ganzen versierten Sängern und Gitarristen deplaziert, plaudert er mit sympathischem Understatement und steht neben, genau, ... einem Laptop. Das Macbook läuft stabil, genau wie die sich bildenden Moshpits. Die Leute haben in der Tat richtig Bock und sorgen für Abriss. Rap und Indie-Festival passt eben doch.
Den harten Einstieg in den zweiten Festivaltag muss man ja doch mal sacken lassen. Die Plastikstühle beim Parcours d'amour sind zwar nicht gerade die Couch zuhause, aber taugen trotzdem für den Ausblick auf die amerikanische Sängerin Alela Diane. Die hat ihren Papa gleich mitgebracht und beide ziehen die Leute mit ätherischem Americana-Folk in den Bann.
Mike Skinner erweckt die Toten
Das Zelt ist brechend voll, bereits Minuten vor dem Auftritt vorfreudiges Gekreische und im Fotograben wildes Geschubse. Ja, Mike Skinner und The Streets sind eindeutig DER Headliner des Maifeld Derbys. Es hat auch Jahre gedauert, bis man den englischen Rapper wieder auf deutschen Festivals sieht. Anscheinend möchte er die verlorene Zeit wieder gut machen und springt hektisch durch sein Set und auf der Bühne herum, bis er diese verlässt und auch kurz in der Menge vor der Bühne verschwindet. Wem vorher aufgrund der Hitze noch die Augen zufielen, ist definitiv wieder wach. Was ein Finish!
Der letzte Maifeld Derby-Tag
Ein Thema kam die vergangenen Tage etwas zu kurz: Der Anteil weiblicher Künstlerinnen auf Festivals. Gurr zeigten ja bereits am Freitag wie untot Indierock sein kann, wenn man sich auf Bands mit Frauen konzentriert. Der Abschlusstag des Maifeld Derby hat zum Glück einiges Spannendes im Angebot.
... Stonefield
Der Name ist Programm, und so werden die Besucher am Nachmittag direkt am Eingang von dem Stonerrock der australischen Band förmlich erschlagen. Der Familienausflug der vier Schwestern von Stonefield nach Deutschland ist der erste große Winner des Tages.
Not so happy Birthday ...
Kollege Hannes Huß ist untröstlich. Das geplante Interview mit Lindsey Jordan aka Snail Mail fällt ins Wasser, weil heute ja ihr Geburtstag sei. Die Bürde mit gerade mal 20 als die Zukunft des Indierock zu gelten, scheint ihr weniger Probleme zu bereiten, als ständige technische Schwierigkeiten. Doch als die Menge ein Ständchen zum Ehrentag singt, huscht auch ihr kurz ein Lächeln über das Gesicht.
Onkel Steven lässt locker angehen
Die Zukunft des Indierock ist Stephen Malkmus nicht mehr, eher schon sein sympathischer Onkel. Seine Band Pavement löste sich nach wegweisenden Meilensteinen Ende der 90er auf, seitdem ist der Sänger auf Solopfaden unterwegs und probiert sich auf dem aktuellen Album sogar an tanzbarem EDM-Sound aus. Die Fans können dennoch aufatmen, denn Malkmus gibt ihnen den vertrauten Slacker-Sound und bleibt auch ansonsten der Inbegriff von unprätentiöser Ausgeglichenheit.
Die Vergangenheit
Teenage Fanclub klingt nach juveniler Band, sind aber drei ältere Herren. Sie mögen Kultstatus besitzen, aber der doch schunkelig angelegte Altherrenrock wirkt doch etwas sehr behäbig und ist wirklich nur für beinharte Nostalgiker ein Gewinn. Die nun brütende Hitze sorgt dafür, doch noch irgendwo ein schattiges Plätzchen aufzusuchen und mit Festivalbesuchern ein Zwischenfazit zu ziehen: Das Bedauern über das vorläufige Ende ist groß, über einen Wegzug nach Berlin wird mittlerweile gemunkelt.
Die Unendlichkeit mit Tocotronic
Gitarrist Rick McPhail wippte noch Stunden vorher erfreut bei Stephen Malkmus, nun steht er mit seinen Freunden Dirk, Arne und Jan selber auf der Bühne. Irgendwie sind die Tocos ja auch die deutschen Pavement und kommen zu walkürenhafter Klassik auf die Bühne. Ist bestimmt wieder ein hübscher Nerd-Insider, der mir partout nicht einfallen mag. Die wahrscheinlich freundlichste Band der Welt begrüßt alle auf das Herzlichste und spielt Klassiker wie "Nach Bahrenfeld im Bus" und auch neuere Songs aus dem Album "Die Unendlichkeit". Einige sprechen nach dem Auftritt von dem besten seit langem.
Faber als letzter Headliner
Freunde werden Jan Müller und Faber wohl nicht mehr. In seinem Insta-Post wird er sich später über die seiner Meinung nach ekligen Texte des Schweizers auslassen. Die Entscheidung den Sänger als den letzten Headliner zu buchen, verstanden schon im Vorfeld nicht alle, und so richtig voll ist das Zelt auch nicht. Trotzdem hat der Mann durchaus eine treue und junge Fanbase und am Schluss spricht er noch aus, was sich alle wünschen: Eine Zukunft für das auch dieses Jahr wieder tolle Indie-Festival.
Highspeed-Punk zum Finale
Amyl And The Sniffers eilt der Ruf einer sensationellen Liveband voraus - und sie enttäuschen nicht. Da mögen die Vokuhila-Frisuren aller Bandmitglieder noch so gewöhnungsbedürftig wirken, Amyl Taylor hat die Leute von der ersten Sekunde an im Griff. Genauso wie das Mikro, das sie ständig umherwirbelt und mit dem sie auch mal eine arglose Box auspeitscht. Die Band ist der geheime Headliner - einfach verdammt geiler Punkrock-Scheiß.
Im fast kitschigen Sonnenuntergang und mit wehmütigen Blick geht es ein letztes Mal vom Gelände. Hier haben wir neue Freundschaften geschlossen, alte Weggefährten wieder getroffen und neue Lieblingsbands kennengelernt. Wo immer dich deine Flügelchen in Zukunft tragen: Maifeld Derby, du warst wahrlich eine Schönheit in der Festivallandschaft - und 2020 ohne dich ist wie Lucky Luke ohne Jolly Jumper.
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