laut.de-Kritik

Mord und Totschlag: Als die Welt noch in Ordnung war.

Review von

Diese Best-Of hätte schon im Herbst 2015 erscheinen sollen, schreibt Nick Cave auf seiner Webseite. "Doch von einem Augenblick zum nächsten wurde die Gegenwart zu einer alten Geschichte, da Gegebenheiten jenseits meines Einflussbereichs die Kontrolle übernahmen". Im Juli 2015 stürzte sein 15-jähriger Sohn Arthur nach einem Experiment mit LSD von einer Klippe und verunglückte tödlich.

Der Schicksalsschlag habe aus ihm eine andere Person in derselben, alten Haut gemacht. "Es war unumgänglich und von größter Dringlichkeit, eine neue Platte aufzunehmen und diesen Menschen sprechen zu lassen", so Cave weiter. Das Ergebnis, "Skeleton Tree" (September 2016), ist so düster, dass es kaum zu ertragen ist.

Im Mai 2017 ist nun doch wieder die Zeit für die alten Geschichten gekommen. Die Tracklist haben Cave und Ex-Bad Seed Mick Harvey nachträglich nicht geändert. Also handelt es sich bei "Lovely Creatures" (im Singular ein Track aus dem Album "Murder Ballads" von 1996, der hier allerdings nicht vertreten ist) um eine zweifache Reise in die Vergangenheit: zum einen, weil sie die Jahre 1983 bis 2013 abdeckt, zum anderen, weil sie die Zeit dokumentiert, als Caves Welt noch in Ordnung war. Eine Welt, in der er freudig meucheln, ermorden, hinrichten und lieben ließ.

Laut Blixa Bargeld, der von 1983 bis 2003 der Begleitband Bad Seeds angehörte, lässt sich Caves Schaffen in zwei Phasen aufteilen: Bis 1997 mit Bezug aufs Alte Testament, danach (bis 2013) aufs Neue. Der Opener "Loverman" (1994) gehört nicht zu den bekanntesten Stücken, bietet mit Gitarrenstürmen und dem Teufel höchstpersönlich, der eine Frau verführt und bedrängt, alle Elemente der ersten Phase. Zu der gehört auch "Tupelo" (1985), in dem Cave die Geburt Elvis Presleys als apokalyptisches Ereignis darstellt. Was es in einer gewissen Hinsicht auch war. Presleys Einfluss auf Cave, in Bezug auf Frisur und Gesangsstil, ist heute noch deutlich zu erkennen.

"Deanna" (1987) ist ein Konzert-Klassiker, ebenso wie das wüste "From Her To Eternity" (1984) und das tränenreiche "Weeping Song" (1990), in dem sich Cave und Bargeld am Mikrophon abwechseln. Mit "Dig, Lazarus, Dig!!!" erfolgt ein plötzlicher Sprung ins Jahr 2008. Cave übt sich in einem assoziativen Text, musikalisch knüpft das Stück an die wilden 80er an. "People Ain't No Good" zeugt von der Phase 1997 bis 2004, in der Cave sich auf sein Klavier konzentrierte und annähernd einfühlsame Balladen schrieb.

Auf "Push The Sky Away" (2013) spielten Gitarren nur noch eine Nebenrolle, eher die sinistren Atmosphären aus Warren Ellis' Laptop. Auch hier stirbt natürlich jemand, nämlich Miley Cyrus, die zum Schluss leblos in ihrem Pool treibt.

Eifrig hüpft die Tracklist im weiteren Verlauf vor und zurück. Dabei fehlen ebenso wenig Caves größter kommerzieller Erfolg, die Murder Ballad "Where The Wild Roses Grow" (1996) im Duett mit Kylie Minogue, noch das letzte Selbstgespräch eines zu Tode Verurteilten auf dem elektrischen Stuhl "The Mercy Seat" (1988), das Johnny Cash 2000 meisterhaft interpretierte.

Fehlen durften auch nicht das tröstende "Ship Song" (1990) und mit "Into My Arms" (1997) das Liebeslied mit der womöglich originellsten ersten Strophe der Rockgeschichte ("I don't believe in an interventionist God / But I know, darling, that you do / But if I did I would kneel down and ask Him / Not to intervene when it came to you / Not to touch a hair on your head / To leave you as you are / And if He felt He had to direct you / Then direct you into my arms"). Den Abschluss macht mit "Stagger Lee" (1996) die Neuinterpretation eines Folk-Traditionals, das Cave lustvoll mit Schimpfwörtern und Toten garniert.

Wer den gebürtigen Australier schon lange kennt, wird bei der Zusammenstellung mit den Achseln zucken, denn neues Material und Rarities hat er nicht im Angebot. Die gibt es auch nicht auf der Deluxe-Ausgabe, die mit 45 Stücken aber mehr als doppelt so lang ist und dank der chronologisch angeordneten Tracklist wie ein anderes Werk wirkt. Zusätzlich gibt es Photos aus dem Archiv, ein lesenswertes, wenn auch zu begeistert wirkendes Essay des Schriftstellers Kirk Lake, eine schöne Verpackung und eine zweistündige DVD mit einem Sammelsurium aus Clips aus allen Schaffensphasen, von verwackelten Aufnahmen aus dem Publikum zu Interview-Auszügen und Livemitschnitten. Im Prinzip wie bei YouTube, nur ohne nervige Werbung.

"Wir haben die Stücke ausgesucht, die hängen geblieben sind, aus welchem Grund auch immer. Manche sind dafür geschrieben, auf der Bühne gespielt zu werden. Andere lieben wir einfach. Dann gibt es die, die einfach zu groß und zu bekannt sind, um sie nicht mit reinzunehmen. Schließlich bleiben die übrig, die es nicht geschafft haben, die armen Dinger. Diese müsst ihr selbst entdecken", erklärt Cave auf seiner Webseite.

Angefangen bei "Henry Lee" (1996) mit PJ Harvey. 2017 ist Cave mit "Skeleton Tree" auf Tour, anschließend wird er sein Leben umkrempeln. In einem lesenswerten Interview mit dem Zeitmagazin kündigt er an, mit seiner Familie von Brighton nach Los Angeles ziehen zu wollen, um einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen. "Jetzt muss ich zusehen, das ich von dem Ich, das 'Skeleton Tree' geschrieben hat, wieder wegkomme, denn diese Platte steht für einen Gemütszustand, den ich hinter mir lassen muss", erklärt er. In dieser Hinsicht wirkt die Beschäftigung mit den liebenswerten Geschöpfen aus der Vergangenheit wie ein Neuanfang.

Trackliste

  1. 1. Loverman
  2. 2. Tupelo
  3. 3. Deanna
  4. 4. From Her To Eternity
  5. 5. The Weeping Song
  6. 6. Dig, Lazarus, Dig!!!
  7. 7. People Ain't No Good
  8. 8. Higgs Boson Blues
  9. 9. Straight To You
  10. 10. Where The Wild Roses Grow
  11. 11. Into My Arms
  12. 12. Love Letter
  13. 13. Red Right Hand
  14. 14. The Mercy Seat
  15. 15. O Children
  16. 16. The Ship Song
  17. 17. Stranger Than Kindness
  18. 18. Jubilee Street
  19. 19. Nature Boy
  20. 20. We No Who U R
  21. 21. Stagger Lee

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