laut.de-Kritik
Gott ist wild, Cave ist wilder.
Review von Franz MauererDas Topos des "Wilden Gottes" ist an der Grenze zwischen Theo- und Philosophie wohlbekannt: In den sowieso unbedingt zu empfehlenden Red Hand Files des australischen Barden äußert Nick Cave Zweifel, ob er das Album "Wild God" nach dem gleichnamigen Track benennen könne, nachdem er das Gedicht "Sometimes A Wild God" von Tom Hirons ergoogelt. Warren Ellis treibt ihm die Grübelei mit einem "Fuck it, there's always something" aus und erfüllt seine Adjutantenrolle damit wieder einmal perfekt.
Letztlich geht es um die Attribuierung von Wesensmerkmalen an Gott, was dem Christentum, und damit Caves primärer Songmaterialschatulle, fremd ist. Und hier liegt die Fallhöhe, wie sie jeder gute Autor sucht. In Caves Version streift ein suchender, verzweifelter Messias durch die Straßen auf der Suche nach Gläubigen, wütet dabei auch ein gutes Stück. Wie die allermeisten von Caves Religionsmetaphern appelliert diese an eine soziale Vision, in der Empathie und gegenseitige Bestätigung einen Wert besitzen (sollen). "Only As Good As My God" würden Everything Everything dazu wohl sagen.
Religion als künstlerisches Thema ist, und für Cave gilt das in besonderem Maße, immer auch ein Mittel, Selbstkritik zu üben und sich en passant als underdog zu gerieren; der "Wild God" spricht selbst von einer "rotting idea". Denn natürlich ist immer alles Cave, er sucht nach dem Mädchen auf der Jubilee Street, er verzweifelt und liebt trotzdem bedingungslos, will es zumindest. Kleiner kriegen wir Cave nicht mehr; der Storyteller ist zu etwas anderem mutiert, und spätestens mit dem Tod zweier seiner Söhne und den damit einhergehenden Gefühlen - zu diesem Zeitpunkt nach eigener Auskunft eher Freude als offenes Leid, aber dazu kommen wir noch - würde jede niedriger angesetzte Verhandlungsgrundlage wohl nicht authentisch bleiben.
Auf dem Titeltrack funktioniert das gut, vielleicht sogar exzellent. Wo Cave noch vor kurzer Zeit mit der Anspannung des Beginns gespielt hätte, suchen Cave und Ellis hier schnell das auflösend Hymnische. Das zeigt, dass die Bad Seeds als sektorale Aufteilung von Caves Werk kaum mehr Sinn geben, zu deutlich sind die Linien von "Carnage", aber auch "Seven Psalms". Insofern müssen diese Werke als limitierter gelten, da er und Ellis sowieso machen, was sie wollen, aber beim Format Bad Seeds Koryphäen wie Wydler, Casey, Vjestica, Mullins und Sclavunos (samt der Könner Colin Greenwood am Bass und Luis Almau an der Nylonsaiten- und Akustikgitarre) bereitstehen, dem ihnen innig vertrauten Meister jede Idee von den Augen zu lesen; der Zelotendienst, zu dem erst Bargeld und dann Mick Harvey ob ihres eigenen offensichtlichen musikalischen Genies nicht mehr bereit waren.
Das endet im Titeltrack in einer bewusst himmlischen Angelegenheit, die nie Widerstand erfährt und nie zur Auflösung gezwungen wird, sondern ganz bezirzt von Caves Songidee immer weiter treibt. Das Ergebnis ist verschlungen und doch geradlinig, und je öfter man es hört, desto exzellenter - aber im Ergebnis fühlbar nicht das, was möglich gewesen wäre, denn wo der "Midnight Man" noch seine "dorsal fin" aufstellen musste, um dem Song zu entkommen, darf der "Wild God" über alle schicken Orte der Welt streifen, ohne Furcht.
Die zweite Single "Frogs", hier Song Nummer drei, zeigt den Texter Cave in der allerhöchsten Perzentile. Der Nachhauseweg von der Kirche, in der Kristofferson samt gammeligem T-Shirt einen Auftritt bekommt, der mit dem Song nur wenig zu tun hat, denn Cave verhandelt hier nicht Einsamkeit, sondern Lebenswillen und -müdigkeit, Opferbereitschaft ("Hop inside my coat") und Gewalt; eine der Lesarten des Songs versetzt Cave in die Rolle eines gewalttätigen Ehemanns ("Frogmarching us home to a bed made of tears"), der die gerechte Tötung durch seine Frau ersehnt, um das Leid beider zu beenden. Der Song hat so viele Böden wie ein gutes französisches Restaurant Schenkel, und die Musik - nun, sie stört nicht. Kompetent wogt alles nach oben und fällt im rechten Moment wieder ein, die typischen Ellis-Geigen wechseln sich mit dem Chor dabei ab, die Wall of Sound zu mauern. Das passt zum Sonntagmorgen, zum überwältigenden Element des Songs, aber mehr halt auch nicht.
Die dritte Single, "Long Dark Night", hätte sich irgendwo zwischen "No More Shall We Part" und "Nocturama" wohlgefühlt in ihrer existenziellen Sehnsucht; wieder ein faszinierender Text aus dem obersten Regal. Der Topos der langen, dunklen/schwarzen Nacht, die sich aus der Theologie v.a. im Englischen zu einer Metapher für seelische Schmerzen entwickelt hat, wurde wohl selten so schön und abgespaced dargestellt wie hier von Cave. Caves Begegnung mit dem "flying man", irgendwas zwischen Gott, Tod und seiner Mutter, wird noch Generationen von Songexegeten beschäftigen. Der Song fügt sich musikalisch in ein sehr klassisches Muster, das allein schon wegen der Führung durchs Klavier und die Akustikgitarren geerdeter wirkt als die Hymnen der ersten beiden Singles. Ein tolles Stück mit einem exzellent aufgelegten Sänger Cave, der hier tief aus sich holt, statt immer am Limit zu predigen.
Der Opener "Song Of The Lake" bebt auf einem Schlagzeug- und Bassbett, das dem Track einen angenehm hüpfend-bebenden Charakter verleiht, was perfekt zum am Ufer zitternden Charakter passt, von dem Cave erzählt. Ein verzweifelter Liebhaber, dessen Liebste sich das Leben nahm, und der nun eigene Lebenspläne ("the king's horses") aufgibt, und sich opfert, um ihr näher zu sein - oder ein alter Mann, der jungen badenden Frauen auflauert, um ihnen "on this mortal soil" den Garaus zu machen, der nicht anders kann, obwohl er weiß, dass sich jedes Mal ein Stück von ihm selbst "dissolve"(d), dem die Häscher der Königs, "all the king's men" nicht habhaft werden können. Während Cave wahrscheinlich von einer völlig anderen, dritten Erzählung singt, schraubt sich dieses brummende Biest immer weiter in die Gehirngänge vor.
Dort löst es mehr Freude als "Joy", in dem man einen gerade zu Beginn virtuosen Cave fast schon fassungslos bestaunen darf. Losgelöst ist hier nichts, Cave fährt wie auf vielen Passagen von "Wild God" sein ganzes Instrumentarium aus, zwischen Spucken und Flüstern; der live zu beobachtende Gospelsänger ist, wenn überhaupt, nur auf dem Titeltrack zu sehen. Das bedingungslose Bitten und Bibbern von Cave um Erlösung, um Gnade, darum, dass nicht noch ein Familienmitglied gestorben ist, gehört in der Reihe schmerzhafter Selbstentblößungen und dort in die kleine, gemeine Minderheit, in denen Cave seine Ohnmacht ("I called all around me/have mercy on me, please") in den Vordergrund stellt. "Wild God" ist keine fröhliche Scheibe, egal, was Cave in Interviews sagt. Mag er es selbst glauben, aber wo die "Frogs" dankbar den Schmerz spüren, weil sie wenigstens noch am Leben sind, dort wäre bei anderen der schwärzeste Fleck im Kanon. Auf "Wild God" muss man nur etwas genauer zuhören als auf den Vorgängern, aber das erhöht die Wucht des Aufpralls vielleicht sogar noch.
Wie passend: "Final Rescue Attempt" biegt ums Eck, und zwar mit elektronischer Begleitung, die genau das zu tun scheint: Rundherum um den Song zu patrouillieren. "After that, nothing ever really hurt again" setzt die fröhliche Stimmung unverzagt fort in einer Geschichte um eine unglückliche Liebe, in der Cave der Verflossenen immer noch nicht verziehen hat, ihre Hand sucht, ihre neuen Götter verflucht, während Ellis hinten die Grabesstimmung herbeistreicht, mit der er scheinbar jeden Morgen aufwacht und dieses verdammte kleine elektronische Licht immer weiter irrlichtert und Cave und uns in den Wahnsinn treibt, bis selbst das tolle Schlagzeug den Versuch aufgeben muss, diesem Monster von Song einen Rahmen zu verpassen. Atemlos.
Zur "Conversion" muss man anmerken, wie völlig anders die Songs dieses Album sich anhören. Alles hat einen greifbar anderen Charakter und doch würde man diese Ansammlung von Songs nie als zusammenpassend in Frage stellen. "Conversion" ist eine Art Druck-Gospel-Gothic-Pop, der stur verzehrt und lange weitergeht, wo Grinderman es schon gut hätte sein lassen. Cave liefert easy eine Top 5-Leistung seiner Karriere ab, zum Schluss völlig außer sich bellt er "Stop! You're beautiful again!". Eine Lesart ist, dass ein Witwer einen Weg sucht, seine Frau wiederzusehen, sich in religiösen Fanatismus wirft und sich zum Schluss in die Flammen stürzt, bis sie eben wieder schön (= bei ihm) ist. Die Flöte zur Mitte hin müsste Warnung genug sein, selten klang Luft so bedrohlich.
"Cinnamon Horses" könnte man kurz für eine Verschnaufpause halten, aber schnell treibt einem Cave solchen Schmarren aus - er geißelt sich selbst und seine Ex dafür, über "love would endure, if it could", also schöne, aber ausgedachte Zimtpferdchen gesungen zu haben, während die Wirklichkeit so aussah: "I said we shouldn't hurt one another/and still we hurt one another" und Vampire die Pferdchen fraßen. Bestimmt könnte man den Song irgendwie positiv interpretieren, samt der drängenden Orgel- und Geigenfanfaren, dem enger werdenden Glockengeläut und der dräuenden Gitarre fällt es mir nur schwer, eine solche positive Erzählung zu finden. Selten wurde man gerne so beklemmt.
Beim Titel hat "O Wow O Wow (How Wonderful She Is)" natürlich schon mal die Handschuhe an der Jacke festgebunden, dazu muss der Song einen Effekt aushalten, den James Blake mit 16 schon peinlich gefunden hätte. Die Band fühlt sich merklich unwohl, hält zu viel Abstand, Cave fällt auch nichts ein, irgendwie kümmert sich keiner um den Song. Wie konnte der auf dieses Album rutschen? Die liebe Susie Cave wird dann auch noch eine Minute auf den AB gezwungen, wenig überraschend macht ihre zweifellos nette Laberei den Song nicht besser. Jungs, ihr macht hier doch gerade ganz große Kunst! Was soll das?
Der Closer "As The Waters Cover The Sea" begeistert zunächst mit seiner flirrenden Hintergrundfigur, dann kommt zu früh und doll ein Chor, der Cave verschluckt. Wir bayerischen Abiturienten wissen natürlich, dass der Songtitel sich auf Habakuk 2:14 bezieht: ein sprachlich schönes Glaubensbekenntnis, und genau das ist der Song, von dem Moment an, da Cave der Staffelstab entrissen wird; er hätte so viel mehr werden können. So wie Wasser das Meer bedeckt ist im Übrigen eigentlich ein Missionsversprechen, kein Heilsversprechen.
"Wild God" hat alles, was Meisterwerke von Cave auszeichnet: Künstlerische Kohärenz, gleichwohl starke Einzelsongs, mit leichten musikalischen Abzügen bei den beiden ersten Singles, völlige Überforderung und ständige Unterhaltung des Hörers, mehr Ebenen als kalter Hund, man fühlt sich wie im Kino. In seiner ungebremsten emotionalen Wucht vielleicht das beste Album nach "The Boatman's Call" - wären da nur nicht die letzten beiden Lieder, das letzte unnötig, das vorletzte einfach nicht besonders gut.
10 Kommentare mit 13 Antworten
Oh nein, nur vier Sterne diesmal!
Jetzt hast Du mal ne ungefähre Ahnung von dem Leid, was PJ Harvey-Fans hier seit Ionen zu ertragen haben! Das, und noch viel Schlimmeres: Alben, die völlig haltlos und anscheinend aus dem Prinzip der Böswilligkeit heraus mit 3/5 und damit dem einzigen, was noch schlimmer ist, als total scheiße zu sein - nämlich vollkommen egal - abgestraft werden! SKANDAL!
ich wusste ja nicht, wie schlimm es um euch steht.
Ich weiß nicht, was PJ Harvey-Fans ertragen müssen, aber WENN sie schon sehr lange leiden, dann wohl eher Äonen als Ionen, es sei denn, der Verf. meint tatsächlich, sie litten seit der Existenz elektrisch geladener Moleküle/Atome unter der ungerechten Beurteilung besagter Dame, was ein noch weniger schmeichelhafter indirekter Hinweis auf Fr. Harveys biologisches Alter ist als die auch schon nicht so schmeichelhaften Äonen. Und das von jemandem, der doch eigentlich wohlwollend über den Output von Fr. Harvey urteilt. Ach, ich versteh das alles nicht...
Nein, Batschi, es heißt „Ionen“. Das ist laut.de-Soziolekt.
Caps hat recht. Rezessionen werden hier seit Ionen derart kommentiert, das musst du als Batschelohr unbedingt verinnerlichen.
@Pseudi:
So etwas ist tatsächlich nur schwer zu ertragen.
Ich werde für meinen Teil aber die Mistgabel erst einmal noch in der Vitrine lassen. Wenn da von 10 Songs 2 nicht so dolle sind, kann man eine 4 vielleicht ja doch noch rechtfertigen. Und schön und mit merklich viel Hingabe zum Thema ist die Rezi auch geschrieben.
traurig, traurig. Wäre aber bei den beiden Vorgängern auch schon angesagt gewesen .Denn die waren verglichen mit seinen eigenen Großtaten schon keine 5er mehr. Auch nicht gegen die Vorgänger, wie Push the sky away.
Bei "O Wow O Wow (How Wonderful She Is)" geht es nicht um Susie sondern um Anita Lane (die auch zu hören ist)
wichtiger Punkt! Finde ich etwas peinlich den Fehler...
Ach, gebt es zu. Auch ein Nick Cave liefert mal so ein halbgutes Album ab.
Korrekt. Der Titel des Albums lautet „Dig!!! Lazarus Dig!!!“.
och, das ist ihm nach dem sehr guten Album Push the Sky away schon mehrfach gelungen
Großartige Songs, großartige Texte, für mich bereits jetzt kaum einholbar das Album des Jahres. Einzig die Produktion ist gewöhnungsbedürftig, insbesondere dann, wenn man die dezente Instrumentierung von Alben wie "Push the Sky Away" schätzt. Aber die Produktion von "Wild God" passt eben auch wie die Faust aufs Auge zum ungewohnt positiven Pathos.
Beim ersten Lesen der Albumtitel musste ich bei "O Wow O Wow (How Wonderful She Is)" auch zucken. Aber was ist das für ein schöner Song! Und einen perfekten Vocoder-Einsatz hätte James Blake mit 16 sicher nicht als peinlich betrachtet. Im Gegenteil, der Herr der Fahrstuhlmusik könnte sich von Nick Cave auch heute noch eine Menge abschauen.
Ich bin seit Jahrzehnten Cave Fan aber das hier ist möglicherweise das langweiligste jemals aufgenommene Album. Pathetische Selbstzitate. Sonst nichts.
Paar mal gehört, gut gefunden, etwas liegen gelassen und nochmal gehört, und es wächst erheblich für mich. Ist für mich inzwischen auf einer Höhe mit Push The Sky Away. Live übrigens auch unfassbar toll die Songs.
5/5