3. Juni 2009

"Ich will nicht nackt durch Berlin reiten"

Interview geführt von

Patrick Wolf erzählt u.a. von den Aufnahmen für das neue Album "The Bachelor", dem Auf und Ab seit seiner Kindheit und seinen Plänen für die Zukunft.Nach einem Pakt mit den Major-Mächten fiel der Fallschirmspringer des Pathos-Pop in ein tiefes Loch. Patrick Wolfs Seele war schwarz gefärbt von bösen Gedanken und schlechten Drogen, er fühlte sich elend. Mit großen Anstrengungen - und noch größerem Produktionsaufwand - hat sich der Londoner Paradiesvogel nun am eigenen Schopf wieder aus dem Schlamassel gezogen. Alec Empire, Matthew Herbert und Tilda Swinton stehen Wolf zur Seite, wenn er mit seinem vierten Album seine Psyche reinigt und sich selbst neu erfindet.

Patrick, du hast für dein letztes Album einen großen Deal mit einem Major an Land gezogen - etwas, wovon du immer geträumt hattest -, warst am Ende aber sehr enttäuscht von der Erfahrung. Hast du dich von deinem Ziel, ein Star zu werden, verabschiedet?

Wenn man von den Medien total gehypet wird, von der Plattenfirma und überall rundherum so große Erwartungen aufgebaut werden, da verliert man leicht den Fokus, warum man ursprünglich begonnen hat, diese Vision zu verfolgen: einen Nummer-Eins-Hit zu landen oder in die Top 10 zu kommen. Vor ein, zwei Jahren dachte ich mir: Ich mache das jetzt, seit ich 18 bin, und habe verzweifelt versucht, mich in dieser Welt zu behaupten. Es ist Zeit, endlich loszulassen.

Erfolg ist mir jetzt egal. Ich will einfach nur mehr das beste Album machen, das ich machen kann - und danach genießen, was da kommen mag. Ich lasse mich von nichts mehr von meinem Job auf diesem Planeten ablenken: Songwriter und Produzent zu sein. Jetzt wo der Druck von Universal Music weg ist, bin ich wohl auch ein viel netterer Mensch geworden. Diese lästige Stimme in meinem Kopf ist nicht mehr da: "Verkaufen! Verkaufen! Verkaufen!" Es ist ungemein befreiend, einfach ich selbst zu sein und das nicht mehr rechtfertigen zu müssen.

Dabei klang deine Musik doch nie, als wäre sie speziell für den großen Erfolg designt. Du hat von Anfang an avancierten Pop gemacht.

Ich glaube auch nicht, dass meine Musik durch Umstände wie einen großen Plattenvertrag je kompromittiert wurde, überhaupt nicht. Ich habe die Musik nie verbogen, um Erfolg zu haben. Vielleicht war ich deswegen auch nie in den Top 10.

Willst du denn in die Top 10?

In der Schule war ich immer der Außenseiter, ich habe mir seit jeher gedacht: "Ich sehe in euren Augen vielleicht anders aus und rede anders, ich werde mich nicht an die Regeln des Establishments halten oder so leben wie alle anderen. Aber ich sehe nicht ein, warum das für mich eine Behinderung sein sollte. Ich kann sein, wer ich sein möchte, und trotzdem denselben Erfolg haben wie viele andere, die konservativ und langweilig sind." Yeah, so denke ich auch heute noch! Aber ich bin inzwischen nicht mehr so sehr an Erfolg interessiert, sondern eher daran, Respekt zu bekommen und von Leuten verstanden zu werden. Das ist für mich das Aufregende: akzeptiert zu werden.

"Ich brauche einen rohen Heavy-Metal-Song"

Dein neues Album "The Bachelor" ist ein sehr persönliches Album geworden. Du sprichst darin offen von einer persönlichen Krise und wie du sie überwunden hast. War das zugleich auch eine kreative Krise?

Meine Gefühle, meine Geistesverfassung, die Frage, wo ich persönlich in meinem Leben gerade stehe, und meine Musik - das ist alles sehr ineinander verschränkt. Oft denke ich dabei kaum über die Musik nach oder über das Tempo, mit dem ich mich durch mein Leben bewege. Ich bin ständig auf der Suche nach Neuem. Und nach meinen ersten drei Alben wollte ich nichts mehr machen, das ihnen ähnlich ist. Ich wollte mich als Persönlichkeit neu erfinden, ich wollte meine Seele neu erfinden, denn sie fühlte sich schmutzig und müde und elend an. Daher musste ich mich auch in meinen Songs neu erfinden. Wenn ich also aggressiv war, wusste ich: Es ist Zeit, Alec Empire anzurufen und ihm zu sagen: "Ich brauche einen rohen Heavy-Metal-Song, um diese Aggression zu kanalisieren." Das war zuerst eine unbewusste Reise, aber ich habe dadurch meinen Weg aus diesem Loch gefunden. Jetzt kann ich von oben hinunter schauen auf den ganzen Schmutz da unten. In dieser Hinsicht ist "The Bachelor" für mich ein ziemlich dreckiges, aggressives, rohes Album.

Weil du Alec Empire ansprichst: Wie kam die Zusammenarbeit denn zustande? Das wirkt ja nicht gerade wie eine sehr offensichtliche Paarung.

Alec war vor ein paar Jahren bei einem Konzert von mir in der Berliner Volksbühne. Wir haben uns dort getroffen und ohne Pause über Musik geredet und viel gelacht. Es fühlte sich an wie bei alten Freunden. Ich war als Teenager bei vielen Konzerten von Atari Teenage Riot, sie waren meine liebste Popband, nämlich die extremste, subversivste Popband, die man sich vorstellen kann. Sie waren meine Sex Pistols. Die restliche Musiklandschaft fand ich so konventionell. Für mich war es jedes Mal wie eine Revolution, wenn Atari Teenage Riot nach London gekommen sind. Sie waren die Band, die mir Feuer und Energie gegeben habt, als ich 14 war. Alles, was auf Digital Hardcore rauskam, machte daher einen großen Teil meiner Musiksammlung aus: Merzbow, Ec8or, ich habe sehr viel wirklich heftigen Noise-Kram gehört. Aber auf meinen eigenen Alben hatte ich das bisher nicht wirklich dokumentiert. Das wollte ich nachholen, und ich dachte, dann sollte ich mit Alec arbeiten, einem der großen Schöpfer dieser Noise-Welt.

Du kommst aus einer recht gebildeten Familie, stimmt's? Deine Eltern sind Künstler.

Ja, aber es ist überhaupt keine intellektuelle oder akademische Familie. Meine Mutter ist Malerin, mein Vater hat seine Wurzeln im Jazz. Ich habe von ihnen früh gelernt, meine Träume und meine Leidenschaften zu verfolgen. Ich kann mich genau erinnern, dass mir mein Vater im Alter von sechs Jahren gesagt hat: "Wenn es irgendetwas gibt, das du im Leben wirklich machen willst, egal was - Gärtner oder Fallschirmspringer -, hör nicht hin, wenn dir jemand sagt, das wäre etwas Dummes! Wenn du es in deinem Herzen fühlst, dann mach es!" Als ich dann zwölf war, hab ich mich entschieden: "Ich will Popstar werden!" Und er so: "Oh, nein! Warum hab ich ihm das jemals erzählt?" Aber ich habe die nächsten zehn Jahre meines Lebens nur damit verbracht, Songs zu schreiben, Musik zu machen und mich neu zu erfinden. Teil meiner Neuerfindung war, dass ich mit 16 mein Elternhaus verlassen habe und in die Welt gezogen bin, um ein Star zu werden. Zwei Jahre später habe ich erstmals wieder mit meinen Eltern gesprochen, und sie haben meine Entscheidung respektiert.

War Musik für dich etwas, wodurch du deiner Umgebung entfliehen konntest?

Oh ja! Beim Matheunterricht bin ich einfach da gesessen und habe in meinem Kopf Songs geschrieben. Und ich habe praktisch rund um die Uhr Geige gespielt. Musik war mein absolut bester Freund, und sie ist es immer noch. Sie hat mein Leben gerettet. Keine Ahnung, in was für einer Verfassung ich mit 20 gewesen wäre, wenn ich keine Songs geschrieben hätte.

Denkst du andererseits, dass das je zu einem Problem für dich wurde? Dass du dich bis zu einem Punkt in deine musikalische Weltflucht hineingesteigert hast, dass es schwierig war, mit der Realität außerhalb davon umzugehen?

Ich denke, es wäre gefährlich, wenn ich jetzt mit 25 Jahren immer noch in diesem Geisteszustand gefangen wäre, wie damals, als Musik eine Flucht war und ich noch nicht mal ein Album veröffentlicht hatte. Mit 16 hatte ich schon so viel geschrieben, dass ich plötzlich kapiert habe: Ich muss endlich ein Album rausbringen, was zwei Jahre später dann auch endlich passiert ist. Dieses Glücksgefühl, seine Musik hinaus in die Welt zu lassen, ist sehr groß. Und dazu gehört ja auch, ein wenig eskapistisch zu sein. Ich würde das selbst dann noch machen, wenn ich gar keine Platten mehr rausbringen würde und in der Welt keinen Erfolg hätte. Aber ich bin dankbar, dass meine Musik von Leuten gehört wird.

Und was wäre, wenn es kein Publikum für deine Musik gäbe?

Hm. Dazu kann ich nichts sagen. Seit ich 18 bin, habe ich ein Publikum. Ich kann es mir gar nicht anders vorstellen. Es gibt nichts Schlimmeres, als auf die Bühne zu gehen und vor einer einzigen Person zu spielen. Ich hasse es. In Dresden habe ich mal vor drei Leuten gespielt. Ich habe für diese drei Menschen gesungen und mein Bestes gegeben. Aber vielleicht wurde ich geschaffen, um mich in größeren Zusammenhängen mitzuteilen.

Du möchtest also nicht mehr Popstar werden, aber ...

Das kostet so viel Arbeit und Stress, dass ich meine Energien nicht mehr dafür verschwenden will. Wenn das passiert, dann passiert es eben. Aber ich werde nicht nackt auf einem Pferd durch Berlin reiten und schreien: "Kauft meine Platten!" Man muss viele lächerliche Dinge machen, um auf der Nummer eins zu landen - und eine Million Pfund für sein Werbebudget haben. Das interessiert mich nicht. Ich würde eher eine Million Pfund ausgeben, um mit einem türkischen Streicherorchester zu arbeiten.

Weil du Orchester sagst: Auf dem neuen Album sind Chöre und Kirchenorgeln zu hören, Streicherarrangements, Westerngitarren ... Die Produktion muss ja sehr aufwendig gewesen sein. Wie viele Leute waren denn daran beteiligt?

Eine enorme Anzahl. Wir haben in sechs oder sieben verschiedenen Studios aufgenommen, dort gab es insgesamt über zwölf Tontechniker. Ich habe mit Thomas Bloch gearbeitet, einem virtuosen klassischen Komponisten, mit Alec Empire hier in Berlin, dann noch mit Matthew Herbert, mit Tilda Swinton, mit Eliza Carthy, und dann ist natürlich noch meine komplette Band dabei. Die Credits sind diesmal eine ganze Seite lang. Für mich war es diesmal wichtiger, nicht selbst so viele Instrumente einzuspielen, sondern mit anderen Musikern als Produzent und kreativer Leiter zu arbeiten. Das fand ich aufregender. Auf meinen anderen Alben bin schließlich fast nur ich alleine zu hören. Wenn man das einmal gemacht hat, wird es langweilig. Für mich zumindest. Es war eine große Herausforderung für mich, mit so vielen Leuten zu arbeiten und meine Vision bis hin zum letzten Mix durchzuziehen, bis zum Mastering. Das wurde in den Abbey Road Studios gemacht, denn ich wollte ein richtig fettes Mastering. Es war ein Riesenaufwand, manchmal dachte ich, dass ich komplett durchdrehe. Einige Leute haben mir gesagt, dass das auch tatsächlich der Fall war. Aber dafür bekomme ich jetzt tolle Kritiken.

Du hast ja sogar zwei Alben aufgenommen.

Ja, das zweite kommt nächstes Jahr. Da steckt noch mal der gleiche Produktionsaufwand drin. Aber das meiste dafür wurde zur selben Zeit aufgenommen. In einem Monat werde ich das alles perfektioniert und fertig haben.

"Ich war einfach der Freak auf der Party"

Natürlich fragen dich jetzt alle nach Tilda Swinton. Erzähl doch kurz: Wie kam die Zusammenarbeit mit ihr zustande?

Tilda war im Kino neben dem Studio, wo ich den Gesang aufgenommen habe, und ich habe ihr eine CD gegeben. Am nächsten Tag stand sie im Studio. Das ging wirklich schnell. Tilda hat die Musik gehört und sofort kapiert, worum es geht. Wir mussten gar nicht viel reden, es war ein Verständnis wie zwischen zwei Seelenverwandten. Toll!

Was hat dich am meisten an ihr beeindruckt?

Sie wirkt in ihrer Schauspielkunst fast wie eine große Songwriterin. Ich meine, diese Art und Weise, wie sie in einem Film eine Rolle spielen kann, aber zugleich auch 100% Tilda Swinton ist. Ungefähr so, wie wenn Bob Dylan einen Song wie "Highway 69 Revisited" spielt und total Boby Dylan, aber zugleich 100% in der Rolle ist. Es gibt nur sehr wenige Schauspieler, die das schaffen. Sie ist die Meisterin darin.

Mit gefällt diese Stelle im Song "Hard Times", wenn der Chor zu singen anfängt: Re-vo-lu-tion.

"Revolution, Resolution, Revolution." Yeah!

Was ist das für eine Revolution?

Einerseits glaube ich an die persönliche Revolution innerhalb deines Lebens, auch ganz wörtlich gemeint: alles dreht sich ständig, verändert und erneuert sich. Wenn du mit etwas in deinem Inneren unzufrieden bist: Zettel eine Revolution an! Verändere dein Leben, deine Persönlichkeit, erfinde dich neu! Und auf einer zweiten Ebene geht es um eine Auflehnung gegen Dinge draußen in der Welt, die einen unglücklich machen: die ganze Mittelmäßigkeit, die Ignoranz, die Gehirnwäsche in den Medien, Frauenfeindlichkeit, Homophobie. "Hard Times" ist ganz grundsätzlich ein Song für alle, die noch mehr Motivation brauchen, um endlich auf die Beine zu kommen und etwas zu verändern. Das muss nicht gleich ein großes Ding sein, in der Art von: "Lasst uns ein kommunistisches Regime aufbauen! Lasst uns Maschinengewehre kaufen und Leute umbringen!" Es kann etwas ganz Einfaches sein. Du siehst eine mit Einkaufstaschen vollgepackte Frau, und anstatt einfach vorbeizulaufen, hilfst du ihr mit den schweren Taschen. Das ist eine Revolution, weil man es normalerweise vielleicht nicht machen würde.

Du wurdest vor nicht allzu langer Zeit bei einem Madonna-Konzert von der Security verprügelt. Der Auslöser war tatsächlich, dass du deinen Freund geküsst hast?

Ja, das stimmt. Ich denke, der Auslöser war eine Mischung aus der Küsserei, meinem Studio-54-Outfit mit Hotpants und Pailletten und der Tatsache, dass ich lautstark einen anderen Madonna-Song über den gesungen habe, den sie gerade performte. Ich war einfach der Freak auf der Party. Aber bei den Security-Leuten war auf jeden Fall auch Homophobie zu spüren. Wenn mir aber jemand sagt: "Du darfst diese Person nicht küssen", dann mache ich das nur um so mehr.

Ihr wurdet beide verprügelt?

Ja. Mich hat es recht schlimm erwischt. Ich hatte eine Wohnung, in der ich nur über eine Leiter in mein Bett kam. Ich konnte die Leiter aber nicht mehr hinunterklettern und lag zwei Wochen lang im Bett herum, den ganzen Tag auf Schmerzmitteln. Und nebenher musste ich noch am Album arbeiten. Aber mit Madonna hat das alles nichts zu tun. Das hätte auch mit der Security auf einem U2-Konzert passieren können - abgesehen von der Tatsache, dass ich niemals auf ein U2-Konzert gehen würde.

Eine letzte Frage. Jetzt, wo du eine große persönliche Krise überwunden und das Ganze in ein tolles Album verwandelt hast: Was kommt als nächstes?

Hmmm. "Patrick Wolf - Das Musical!" So etwas in der Art wäre toll. Ich habe noch jede Menge Ziele. In nächster Zeit kommen einige wirklich große Konzerte auf mich zu, in Venues, von denen ich nie dachte, dass ich dort spielen würde. Da könnte sogar mein Mutter stolz und glücklich sterben. Es gibt für mich immer noch so viel mehr zu tun. Es fühlt sich so an, als hätte ich gerade erst richtig angefangen.

Mit Patrick Wolf sprach Arno Raffeiner

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