Porträt

laut.de-Biographie

Pere Ubu

Der allererste Song von Pere Ubu handelt vom Zweiten Weltkrieg - und von Militärtechnik. "Ich interessierte mich immer für Flugzeuge. Ich hatte gerade aufgehört, Armeepilot zu sein – und ich mag besonders den Klang der Kolbenmotoren. Und diese Zweite Weltkrieg-Flugzeuge mit ihren großen Rotationskolbenmaschinen, die haben einfach einen liebenswerten Sound. Als ich also den Titel des Songs vernahm, für den mich die Band anfragte, fielen mir einzig der Sound einer Flugzeugturbine ein und der Radio-Schnipsel, dieser Eindruck von einer Radio-Übertragung mit Frequenzsuche, Ein- und Aussteuern der richtigen Frequenz. Um das zu erzeugen, benutzte ich meinen ElectroComp 200-Synthesizer, sonst nichts."

Allen Ravenstine beschreibt, wie im Jahr 1975 die erste Single entsteht, "30 Sekunden über Tokio" betitelt. Zufällig stößt der Synthesizer-Experte zur Combo um den schrulligen David Thomas. Jener ist ein Sänger mit auffallend hoher Stimme. Seine Auftritte klingen nach Theatersaal und sehen Fotos zufolge auch so aus. Die meisten Menschen außerhalb der USA lernen Pere Ubu über New Wave-Compilations kennen. Innerhalb der USA sind es bestimmte Clubs. Die Band erarbeitet sich vor allem als Live-Band ihren Ruf.

Verkäuflich im nennenswerten Maßstab war die Musik von Pere Ubu nie. Gesprochen Pärr Übü. 'Père' ist der Papa im Französischen. Der Name Pere Ubu referiert auf ein Theaterstück des Jahres 1896 und eine Figur darin, einen König. Mit Theater wird die Band Zeit ihres Bestehens viel zu tun haben. Mit Königen verbindet sie sonst wenig, gerät die Combo doch im Jahr ihres Debütalbums 1977 in die anarchistische Punk-Welle hinein.

Pere Ubu zählt kaum jemand zu den Vorläufern des Punk, da sie vor dem 'Ausbruch' der Punk-Explosion noch kaum etwas veröffentlichen. Gleichwohl ist die Combo im Geiste punkig und spielt auch bald im Herzen des Geschehens, dem New Yorker Club CBGB. Television gehören hierhin, auch die Talking Heads, der ganze NYC-Punkrock, auch die Ramones.

Die Vorboten dieser Jugendkultur spielen im mittleren Westen der USA kaum eine Rolle. Doch in Cleveland, Ohio, gibt es schon einige Grundvoraussetzungen für die Denke der Punks - aufgrund dessen, wogegen sie sich wenden: Die Industrie formt die Landschaft erst in trostlosen Beton um, bietet dann aber nicht mehr genügend Arbeitsplätze. Solch eine Konstellation bildet bereits an anderer US-Location, in Detroit, den Nährboden für die rebellisch-kauzige Musik von Iggy Pop & The Stooges und MC5.

Mit Garagenrock-Geschrammel und einfach möglichst viel schnellem, lautem Lärm, hat die experimentelle Musik von Pere Ubu dagegen nur selten zu tun - aber auch. Einzelne Songs gibt es, die sich in den Punkrock der Ära '76-'80 einreihen. Ein wesentlicher Unterschied besteht aber schon in der Instrumentierung. Für lange Zeit bildet Allen Ravenstine, geboren 1950, die treibende Kraft für den Avantgarde-Anteil im Sound dieser Amerikaner.

Der Keyboarder entlockt den frühen Synthesizer-Modellen seltsame, abartige, selbstzerstörende Geräusche: "blips, and blurbs", die für den Rockkritiker John Dougan wie ein beschleunigtes Computerspiel der ersten Stunde klingen. "30 Seconds Over Tokyo" heißt die legendäre erste Aufnahme mit Ravenstine und der Band - 1975. Der Song erreicht mittels seiner bloß 1.000 Pressungen zwar nur Insider-Kreise im Underground, übt aber großen Einfluss aus. Anhand des Stücks kann man das Grundproblem der Band studieren.

Erst 1981 schiebt Rough Trade den offiziellen Release im Rahmen des Live-Best-Ofs "390 Degrees Of Simulated Stereo" nach. Wirklich viele Leute erreichen die ganz frühen Werke dann erst 1996. Es erscheint die Box "Datapanik In The Year Zero" und eröffnet mit dem zwei Dekaden alten, nun irgendwie neuen Stück. Nochmal 20 Jahre später fasst Fire Records dann auf "Elitism For The People" die frühen Singles, die ersten beiden Alben ("The Modern Dance", "Dub Housing") sowie ein Cassetten-Bootleg zusammen.

Die Releases der Band nachzuverfolgen legt diskografisches Chaos offen und hat viel mit Wiederveröffentlichungen, Second Hand-Geschäft, Split zwischen US- und EU-Markt und mit einer anfänglichen Planlosigkeit zu tun, die nie behoben wird. Pere Ubu haben über die Jahre weder eine feste Plattenfirma noch eine feste Besetzung.

Die Single "30 Seconds Over Tokyo" gerät so zu den "100 Platten, welche die Welt in Brand setzten, ohne dass jemand zuhörte", wie es ein Negativrekord-Ranking der englischen Zeitschrift The Wire formuliert. 'Wire' ist ein gutes Stichwort. Auf der Suche nach ähnlichen Bands könnte man mit großer Mühe zwei finden: Wire, Zeitgenossen aus London, und (The) Red Krayola, stilistische Vorläufer aus Texas.

Beide lassen sich mit Pere Ubu zwar kaum vergleichen, aber um nun überhaupt irgendwo Parallelen zu ziehen: Hier sind sie am klarsten. Allerdings kommt es darauf an, welches Pere Ubu-Album man heranzieht. Manche Platten wie "Worlds In Collision" und "Story Of My Life" Anfang der 90er weisen zu solchen Bands überhaupt keinen Bezugspunkt mehr auf, und auch das Maßstab setzende "Dub Housing" hat weder mit Garage Rock noch mit New Wave, Post-Punk und Post-Rock viel gemein. Dort überwiegt elegantes, elektronisches Gefrickel.

Zur ersten Besetzung der Combo gehören neben Ravenstine als Saxophonist und Synthie-Programmierer vor allem vier Leute: die später einzige Konstante, David Thomas, als Sänger, Percussionist und an der Oboe, Gitarrist Tom Herman, Drummer Scott Krauss und Tony Maimone als Bassist und Pianist. Die Band produziert das Debüt "The Modern Dance" selbst und beginnt im Oktober 1976 mit den langwierigen Aufnahmen. Das Label heißt Blank Records und gründet sich im Punkjahr '77. Pere Ubu machen nur diese eine Scheibe dort, und das englische Magazin "New Musical Express" nennt das Album "elftbeste Platte des Jahres 1978".

Dafür verkauft sie sich ziemlich mies. Ausgleichsweise erscheinen in den folgenden vier Jahrzehnten über 25 Nachpressungen. Alleine das Second Hand-Portal discogs.com verzeichnet an die 5.000 Suchanfragen nach CD und gebrauchtem Vinyl.

Zu den einschneidenden Tracks darauf zählt "Chinese Radiation". Das Stück beginnt so, wie Songs von beispielsweise Patti Smith zu jener Zeit üblicher Weise begannen. Es verrennt sich in ein kakophonisches, hektisches Gewirr aus Synthie-Störgeräuschen und dichtem Gitarren-Schlagzeug-Geschepper, bis der Lärm plötzlich abbricht und eine Spoken Word-Passage zu Klaviertönen die verzweifelt klingenden Schreigesänge von David Thomas ablöst. Das fast schon komödiantische Konstrukt "Real World" verstört mit Lachen, einem völlig wirren Gesangsvortrag und Synthesizer-Parts, die wie Sprungfedern klingen. Pere Ubu setzen eine nicht kopierbare Klangmarke.

Am 17. November 1978 erscheint der zügig produzierte Nachfolger, "Dub Housing". Vordergründig taucht hier kein Dub auf, zumindest nicht in Reinform. Doch die Effektespielerei der damals noch recht frischen Musikrichtung kennzeichnet weite Strecken des Albums. Zudem vereint das Album unter allen Scheiben der Gruppe die meisten verschiedenen Seiten und Spielarten der Band.

Ungeachtet oder wegen seiner 'Craziness' erzielt es großen Einfluss auf die Grenzziehung von Kunstarten, Stilen und Subgenres. Es kann sowohl als Free Jazz, Elektronik, Rock wie auch als Theateraufführung verstanden werden und erfährt immer wieder verschiedene Interpretationen anhand des Cover-Bildes.

Dieses zeigt ein kleines unscharf gezeichnetes Haus bei Nacht im Bildvordergrund gegenüber einem mindestens fünfstöckigen Haus, in dem bizarrer Weise alle Fenster gleißendes Licht ausspucken. An die Musik dieser wohl bemerkenswertesten Ubu-Platte knüpfen später bewusst oder unbewusst David Byrne und die Talking Heads Anfang der 2000er Jahre dann die Londoner Kunststudenten Ikara Colt an.

Relativ genervt zeigt sich das Quintett Pere Ubu von den Aufnahmen zum dritten Album, "New Picnic Time". Die Band reichert es umfassend mit Tastentönen an. David Thomas und Tom Herman spielen nun beide Orgel, Tony Maimone Klavier und Allen Ravenstine Keyboards. Diese Konstellation gibt es nur einmal, denn die Platte nimmt die erste Trennung vorweg. Der insgesamt nun New York- und London-beeinflusste Sound führt zu einer Zuordnung in den Kreise von Acts wie Graham Parker, The Slits, The Modern Lovers, The Fall, Modern Eon und Television. Dennoch heben sich der schauspielerische Einsatz von David Thomas Stimme genauso wie die Zirkusclown-artigen Klamotten der Bands und ihr literarischer Anspruch vom allgemeinen New Wave-Geschehen ab.

Auf die erste kurze Trennung folgt "The Art Of Walking". Der Gitarrist heißt jetzt Mayo Thompson und stößt von Red Krayola hinzu. Nie gibt es wieder eine so sehr auf Gitarrenrock aufgebaute Scheibe der Band. Auch der eingefleischteste Fan wird zugeben, dass es bessere Produkte von Pere Ubu gibt. Bessere Verpackungen sicher. Das Plattencover sieht aus wie die Hawaii-Hemden, die Jürgen von der Lippe später im Fernsehen tragen wird. Auch diese ist aber keine Platte ohne Nachwirkung. "The Art Of Walking" führt besonders scharf die Neigung des Pere Ubu-Projekts zum absurden Theater vor.

Hier bilden sich Klänge, damit man etwas zum Zerstören hat und hinterher drüber lachen kann. Songs wie "Rhapsody In Pink" funktionieren eher im Bühnenkontext als auf Platte und gehen in Richtung elektroakustischer Musik der Neuen Moderne - also etwa dessen, was Jean-Michel Jarre fabriziert.

Während dieser vierte Longplayer rauen Charme besitzt und die volle Konzentration beim Hören beansprucht, erlaubt sich "A Song Of The Bailing Man" mitunter Ambient-Abschnitte, so in "A Day Such As This", die an Brian Eno erinnern. Der Innovationsgrad der Scheibe steigt gegenüber den Vorigen noch durchs Engagement eines Marimba-Spielers, der einen Hauch exotischen Worldbeats vorweg nimmt, ab Mitte der 80er ja ein allgemeiner Trend. Zudem gönnen sich Pere Ubu einen Trompeter für die Platte und steigern sich in Zappa-esken Jazz.

Danach ist Sense. David Thomas probiert sich solo aus. Mit dem Ende der Punk-Phase gehen auch Pere Ubu gleich wieder unter. In England hatte sich derweil im Psychedelic-Rock-Umfeld eine merkwürdige Truppe namens Henry Cow rund um den Bassisten Fred Frith an ihrer speziellen Entwicklung von improvisierter Rockmusik, der Verschmelzung von Kunst, Kammermusik, Antikapitalismus und Jazzinstrumenten versucht. Nun kommt es zu einer interessanten 'Vitamin B'-bedingten Wendung. Das Projekt Henry Cow zerschlägt sich, und Chris Cutler, der dort mitgemacht hat, arbeitet in Deutschland mit dem Theaterregisseur und Keyboarder Heiner Goebbels weiter.

Pere Ubu und Theater - das geht wieder zusammen. Im Umfeld von Goebbels ist die Band Cassiber aktiv. Beide befassen sich kritisch mit der Musique Concrète. Diese ist in der Regel instrumental angelegt. Pere Ubu machten teils Musique Concrète mit Gesang. Und mit der Stimme von David Thomas treiben sie den Effekt auf die Spitze. Genau hier will daher Schlagzeuger Chris Cutler mitmachen.

Pere Ubu hatten ja einen eigenen Drummer – nun geht die Band folglich mit zweien ins Rennen und in ihre dritte Besetzungsrunde. Arbeit ist genug da. Zum Beispiel um noch mehr Stör-Sounds zu erzeugen. "The Tenement Year" wird vielleicht nicht perfekt, aber doch eine beliebte Platte. Mittlerweile gibt es Gruppen wie The The, und im Vergleich mit deren Output wirkt auch "The Tenement Year" zeitgemäß.

Der fortschrittskritische Song "We Have The Technology" geht mit einem Videoclip einher; neu für die Band. Darin tänzelt David Thomas auf einer Bühne mit Schachbrettmuster. Dieser Song und manches andere wirken wie geradlinige Singer-/Songwriter-Musik, bisweilen Anti-Folk.

Für einige Zeit beginnt danach die poppige Phase von Pere Ubu. Ein weiteres Video gemäß damaliger neon-schriller Optik werfen Pere Ubu für "Waiting For Mary" aus dem Folgealbum "Cloudland" auf den Markt. Tatsächlich bescheidet ihnen diese Single mal einen kleinen Erfolg. Songs wie "Breathe" klingen eher wie Tom Petty und John Mellencamp als nach New Wave und Musique Concrète. Technikfreak Allen Ravenstine findet seinen Platz darin nicht mehr. Er verlässt die Band während der Aufnahmen zu "Worlds In Collision" 1991. Trotz geteilten Echos findet der aalglatte Classic Rock dieser Platte vor allem Fürsprecher und auch unter den kritischen Stimmen keine Verrisse, eher gedämpfte Begeisterung.

Das neunte Album "Story Of My Life" enthält zwar einige der schönsten Stücke von Pere Ubu. In den späteren Re-Release-Katalogen fehlt die CD jedoch. Rar und unterschätzt. Klanglich setzt sie auf zittrige Gitarren, Hammond- und Dampfpfeifenorgel. Die Tracks "Sleep Walk", "Heartbreak Garage" und "Postcard" führen neue Seiten von Pere Ubu, inspiriert von Alternative Rock, Grunge und Electroclash, vor.

"Raygun Suitcase" wird im August 1995 das einzige Album von Pere Ubu, das über den Geschmack der Musiker Aufschluss gibt. Zwei Mal nehmen sie auf die Beach Boys Bezug, einmal auf den Ort Memphis. Das recht schnell gespielte, schroffe und teils recht harte Album vereint die poppigen, elektronischen, schrägen und düsteren Klangfarben früherer Platten in einem neuen, Grunge-, Americana- und Surf-Rock-Kontext. Neu erklingen nun ein Cello und ein Theremin, ein Gerät das auf Temperatur anspricht und Töne durch Wärmeimpulse von sich gibt.

Die folgenden Jahre bedeuten ein Vor und Zurück der Mitglieder, während David Thomas auch mit anderen Bands unterwegs ist. Auf "Pennsylvania" ist der kürzeste Track eine knappe Minute und der längste Track über 23 Minuten lang. Größere Präsenz in den Medien hat das mal sphärische, mal zappelige und insgesamt sehr verquere Album "St. Arkansas". Nochmal eine neue Bandbesetzung ergibt sich ab 2006 und dem Album "Why I Hate Women". Trotz des Titels wechselt eine Frau, Michele Temple, im Gesang mit David Thomas. Auch dieses Line-Up hält nur ein paar Jahre.

Die Zeit bis zur Rente bekommt der Frontmann aber noch überraschend gut hin. Für zwei sehr gelungene Alben schießt ihm das Londoner Indie-Label Fire Records Kapital voraus. Für zwei weitere nimmt das ebenfalls renommierte Label Cherry Red danach Pere Ubu unter Vertrag. "The Long Goodbye" markiert im Sommer 2019 das Abschiedsalbum, nachdem David Thomas kurz vor Erscheinen 66 Jahre alt wird. Auf Tour gehen Pere Ubu noch eine Zeitlang. Trotz vieler kursierender, offiziell abgesegneter Bootleg-Mitschnitte: Ein technisch perfektes Live-Album fehlte immer und liegt schließlich der Deluxe-Variante von "The Long Goodbye" bei - eine würdige Aufnahme, um 'adieu' zu sagen.

Stattdessen starten die experimentierfreudigen Musiker 2023 neu durch. Alex Ward stößt als zweiter Gitarrist hinzu, spielt auch Klarinette und bringt frischen Impro-Wind in den "Trouble On Big Beat Street" ein. Der Musiker war lange Fan der Band und hatte sich erfolgreich mit einer Cover-Aufnahme beworben. Keith Moliné an der Television-mäßig gespielten Lead Guitar duelliert sich mit Elektronik-Tüftler und Gelegenheits-Drummer Gagarin (Graham Dowdell), der an den Synths für Hörspiel-artige Kulissen sorgt.

Seine Stimme erhebt weiterhin und dieses Mal besonders theatral David Thomas. Andy Diagram, ein alter Studio-Kumpel, gibt an der Trompete zusätzlichen Input, Schlagzeuger Chris Cutler geht ersatzlos. Michele Temple verbleibt als Bassistin in der Band. Jack Jones übernimmt nach dem Kennenlernen in einem Pub das Theremin vom Band-Chef. Das neu zusammen gewürfelte Ensemble engagiert sich für ein überraschendes Sound-Gewirr, das manches aus der Geschichte der Gruppe aufgreift, aber auch noch eine Weiterentwicklung ins Humoristische darstellt.

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