laut.de-Kritik

Zu viel von allem.

Review von

Dem Namen Pippo Pollina sind viele Menschen begegnet, wenn sie in den letzten zehn Jahren Broschüren und Stadtmagazine mit Konzert-Tipps durchgeblättert haben. Doch auch nach dem Genuss seines neuen Albums "Canzoni Segrete" bleibt unklar, welchen Musikstil sich der 59-Jährige zu Eigen macht. "Canzoni" sind italienisch Lieder, Chansons. Pollina stellt sich in die Tradition der 'Cantautori', der italienischsprachigen Singer/Songwriter-Szene. Doch auch Jazz-Flair steckt in der Musik des Sizilianers.

Multinationaler 'Liedermacher-Jazz' wäre schon ausreichend, eine gute Basis für ein interessantes Album. Aber dann treten viel zu viele Anbiederungen an andere Genres in den Weg. In "Come Una Felicita Improvvisa" zum Beispiel sackt die CD leider in belanglos plätschernde Lounge-Kitsch-Arrangements ab, wo der philosophische Text mehr Wachheit, Schärfe und Raffinesse einfordert. Statt dessen münden vier Minuten Plüsch-Jazz, die sich wie sieben anfühlen, am Ende in ein Gitarrensolo vom Niveau eines der schwächeren Foreigner-Alben.

Zahlreiche Tiefschläge führen von mäanderndem Pseudo-Ethno-Panflöten-Pop ("Una Musica Anche Domani") bis zu übertriebenster Lieblichkeit mit der Wucht großer Hollywood-Filmmusik ("Prendile Se Vuoi"), stolpern durch verloren taumelnden Rock-Pop ("Pizzolungo"), wo nur das Saxophonsolo elegant ist und der Rest einschläfernd. Neben all solchen Momenten ohne Biss wartet der Wahl-Schweizer durchaus mit ein paar schönen Stücken auf.

Als da wären: "Abbiamo Tutti" ("Wir alle haben..."), "Senti Le Cicale" ("Hör die Zikaden"), "Dove Ti Nasconderai" ("Wo wirst du dich verstecken?") und "Tutto Chiuso" ("Alles geschlossen"). Letzteres profitiert von etwas, was auf dieser LP viel zu selten geschieht: einer klaren Entscheidung. "Tutto Chiuso" setzt überwiegend aufs Klavier-Pedal und Hi-Hats, und die starke rhythmische Grundierung springt beim Hören über und hält den Chanson im Fluss. Nach zwei Dritteln wandelt sich das zurückgenommene Stück in zünftige bajuwarische Bierzelt-Mucke mit Marschrhythmus. Worauf Pollina sich danach halbwegs die Stimme aus dem Leib kräht. Die Biermösl Blosn klingt da vergleichsweise ausgeruht. Das Textthema "Alles geschlossen" ist uns allen nach diversen Formen monatelanger Ausgangssperren, Geschäftsschließungen, Homeschoolings und Betretungsverboten recht vertraut.

"Dove Ti Nasconderai" hört sich nach bluesig eingefärbtem Stadionrock und nach dem Hit des Albums an, ein bisschen wie die perfekte Balance zwischen Ligabue, Lindsey Buckingham und John Mellencamp. "Senti Le Cicale" steigt mit einem wippenden Rhythmus, leise und ein bisschen gehetzt ein, weckt auf jeden Fall Interesse. Man fühlt sich dank hüpfenden Kontrabass und der italienischen Sprache an Paolo Conte in "Via Con Me" erinnert, insbesondere als Pollina im rau-trockenen Vortrag seiner Strophen heiser lacht. (In "Senti Le Cicale" lacht er auch, was aber im Pathosgeschrei versumpft).

Die erste Refrain-Einlage in "Immaginarti" verpatzt Pollina durch Pathos und übertriebene Inbrunst in Ramazzotti-Tonlage. Für das zweite und dritte Mal Refrain fand er eine bessere Lösung, einen Herrenchor in Tenorlage. Insgesamt legt Pippo damit den besten und gewitztesten Song der Platte vor.

Über die bis hierher nicht erwähnten Titel -immerhin die Hälfte - komme ich zu dem Schluss, dass sie sich als Tonträger-Musik nicht eignen und ihren Charme wohl eher bei der sich anschließenden Tournee entfalten. Sie klingen alle wie eine einzige breiige Masse an viel zu viel Dickicht aus zu vielen zu laut gespielten Instrumenten, aus überspitztem Gesang und zu hoch transponierten Noten, die Pollina wie einen Kastraten oder wie Nek klingen lassen. Weil sich das Motto 'zu viel von allem' wie ein knallrotes Band durchs Album schlängelt, ist es auch des Genre-Wirrwarrs irgendwann zu viel.

"Canzoni Segrete" ist ein durchwachsenes Album ohne Mut, sondern für ein Publikum, das sowieso die Konzertkarten kauft. Meine Hörerfahrung fühlte sich ungefähr genauso wie mein Versuch 2019 an, bei Max Herres "Athen" den wiederholten Übergang zwischen Schlafen und Wachen während des Hörens toll zu finden, vergleichbar einem erholsamen Kinoschlaf. Ab einer gewissen Anzahl Durchläufen habe ich Pippo jedes Mal gestoppt, wenn ich mich beim Googeln, Mails-Checken oder anderen Ablenkungen ertappt habe, und bin wieder zu der Stelle zurück, an der ich Pollinas Faden verloren habe. Vielleicht richtet sich die CD einfach an Leute, die Schlafstörungen haben. Dann ist sie therapeutisch und sehr gemütlich, mit handwerklich ausdrucksstarken Musikern (zu vielen gleichzeitig), mit gelungener Lyrik und einer warmen Ausstrahlung.

Trackliste

  1. 1. Una Musica Anche Domani
  2. 2. Di Come Quando Cristo Fuori Piove
  3. 3. Scacciaferro
  4. 4. Guarda Scende La Neve
  5. 5. Come Una Felicita Improvvisa
  6. 6. Abbiamo Tutti
  7. 7. Prendile Se Vuoi
  8. 8. Senti Le Cicale
  9. 9. Pizzolungo
  10. 10. Leo
  11. 11. Immaginarti
  12. 12. Dove Ti Nasconderai
  13. 13. Tutto Chiuso

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3 Kommentare mit 2 Antworten

  • Vor 2 Jahren

    Ein sehr unsorgfältig geschriebener Artikel. Ich teile zwar die Ansicht, dass es sich bei "Canzoni segrete" um ein eher durchzogenes Album handelt, aber bei "Immaginarti" höre ich beim besten Willen keinen "Herrenchor in Tenorlage" und Paolo Contes "Via con me" ist wohl eher in "Tutto chiuso" denn in "Senti le cicale" zu erkennen - um nur zwei Ungereimtheiten aus dem Artikel zu nennen.

  • Vor 2 Jahren

    Sehr geehrter Herr Kause???

    anscheinend sind Ihnen bei Ihrer Recherche bezüglich
    „Canzone Segrete „ doch sehr e i n f a c h e Fehler in den „Sinn“ gekommen!!! Gerade aus diesem Grunde kann ich Ihren Artikel nicht ERNST nehmen ????
    EIN KLEINER TIPP von MIR:

    Bitte keine Benzodiazepine am Abend vor BERICHTERSTATTUNGEN ????????

    BUOANA NOTTE PippoPollina????????♥️, GRAZIE MILLE, PERFETTO CD????

    • Vor 2 Jahren

      Sehr geehrte Imgrid Arsch,
      wir von der laut-de redazione sagen scusi für diese Recensione. Signore Kause wurde a caldo gefeuert.
      Ba bene,
      Signore Pallegiare

  • Vor 2 Jahren

    Ich bewundere ja diese aufopferungsvollen Verteidigungsversuche. Aber am Ende des Tages ist Calzone Sekret einfach Käse.