laut.de-Kritik
"Hin oder her, her oder hin, wir sind anders als wir waren."
Review von Dani Fromm"Hin oder her, her oder hin, wir sind anders als wir waren." Stimmt. Die zweieinhalb Jahre, die ins Land gingen, seit der Gewinner des FM4-Protestsong-Contests mit seinem letzten Album getreu der Maxime "Use the media, confuse the media" dem Zeitgeist einen deftigen Tritt in den Hintern verpasste, sind an Rainer von Vielen nicht ganz spurlos vorüber gezogen.
Inzwischen in Gesellschaft seiner Band Kauz unterwegs, hielten Rockgitarren Einzug in den von Vielen'schen Klangkosmos. Das einst selbst gezimmerte Etikett Elektro-Punk-Hop will noch weniger passen als anno dazumal: "Wir sind verändert. Bleib uns treu."
"Neu Definieren" muss, wer sich mit Rainer von Vielen befasst, an erster Stelle einmal sein Verständnis von Genre-Grenzen. Der musikalische Molotov-Cocktail, den der Mann aus dem Allgäu seinem Publikum um die Ohren drischt, entzieht sich nicht nur jeglicher Kategorisierung, er lässt gleich den ganzen hübsch ordentlichen Schubladenschrank in Flammen aufgehen.
Von der ersten Sekunde an werden Stile und Stimmungen verquickt und verwirbelt, dass einem schwindlig wird. Gemütliches Sich-Einrichten im Altbekannten ist weder möglich noch gewünscht. Rainer von Vielen setzt jamaikanisch anmutendes Toasting über kratzige Gitarrenriffs, wüstes Punkgetrommel neben einen Kinderchor und streut darüber gewissenlos je eine Handvoll Elektro- und Hip Hop-Elemente. Wohlgemerkt: Wir befinden uns gerade mal im Eröffnungstrack.
Im weiteren Verlauf setzt es schnurgerade, Dancefloor-kompatible Beats, einen Heimatkunde-Ausflug samt Schifferklavier und Maultrommel, soulig angehauchte Bläser, groovende Bässe und Fingerschnippen, einen funky pulsierenden Dub (was ist ein Dub anderes als eine "Geisterscheinung"?), Akustikgitarren, Drums und Percussion.
And.Ypsilon von den Fantastischen Vieren geht ebenso mit an den Start wie die Percussion-Formation Orange. Punkrock-typisches Revoluzzertum trifft auf schrägen Liedermacher-Charme, "Tanz Den Mussolini"-80er-Ästhetik auf Folklore aus verschiedensten Winkeln der Welt. Alpenländische Jodler und Obertongesang, wie er in Tuva oder unter tibetanischen Mönchen kultiviert wird, schließen sich gegenseitig nicht zwingend aus
Keineswegs der größte Sänger unter der Sonne, verpasst Rainer von Vielen einer Nummer wie "Der Gedanke An Dich" dennoch eine im besten Sinne kauzige Herzlichkeit. Er verkauft sich als Geschichtenerzähler, als Prediger Mantra-artig wiederholter Textzeilen, als melancholischer Selbstbetrachter und Partyrocker, als Unruhestifter und Meditations-Lehrer gleichermaßen.
Facettenreichtum und Spannweite machen "Kauz" zu einem auf vielen Ebenen berührenden Stück Musik, das sich unabhängig jeglicher Trends und Moden bewegt. Die Zerfahrenheit und halsbrecherische Geschwindigkeit, mit der zwischen verschiedenen Welten hin- und hergesprungen wird, setzt aber durchaus Nehmerqualitäten voraus.
Eben noch im Club die Revolution getanzt, findet man sich unversehens in die winddurchwehten Weiten von "Distanza" verpflanzt. Von da aus in rasender Hast über die heimische Kuschelecke ohne Zwischenstopp in die Mongolei ... Gut, dass mit "Nichts" eine zwölfminütige Besinnungsübung ans Ende gesetzt wurde. Zwischen kehligen Grund- und faszinierend klingelnden Obertönen lässt es sich prächtig über den nicht vorhandenen roten Faden nachsinnen und dann gediegen drauf pfeifen: bewusstseinserweiternde Pilze fürs Ohr.
Noch keine Kommentare