laut.de-Kritik

Mehr als nur ein Nebensatz zu viel.

Review von

Der Retrogott war mal der Archetyp des Anti-Alles-Battlerappers. Der Urtyp der Realkeeper. Der den jazzigsten Jazz sampelnde Jazzsampler. Doch im Laufe seiner Karriere gab es eine entscheidende Entwicklung: Er hat angefangen, immer weniger oft Hurensohn zu sagen. Und irgendwie hat das alles verändert. Heute macht er geballte Gesellschaftskritik, so geballt, dass seine Lines und Referenzen ein eigenes Fußnotenregister verdient hätten. "Der Urlaub Hat Nicht Stattgefunden" will musikalisch das Erbe seiner legendären anderen Hulk Hodn-Kollabos aufleben lassen, dabei aber trotzdem über Adorno rappen. Auf dem Papier war er somit zwar nie näher an realpolitischen Themen. In der Praxis hat der Mann nie weltfremder geklungen.

"Was sagst denn du zur Lage der Welt? Das kann dich doch nicht kalt lassen", fragt dementsprechend programmatisch das Intro. Wer auch immer sich diese Frage gestellt hat. Es lässt sich auch nicht schlecht an mit den klaren Ansagen: "Der Planet ist gefickt". Dann wird es aber schnell ziemlich happig. Die Bars auf diesem Album sind beachtlich verkopft. Parts fangen mit Lines an wie "Genug gewartet, reden wir von Truppenstärke". Songs fangen mit Hooks wie "Sie sagen In-fla-tion" an. Wer sagt Inflation? Warum reden wir über Truppenstärke? Herr Retro, ich werde das Gefühl nicht los, dass mir Kontext fehlt, über was und warum wir eigentlich diskutieren?! Es gibt sie ja, die geilen Momente der Wortspielerei und die genuin klugen Beobachtungen. Aber so oft fehlt jede Orientierung und jeder Anhaltspunkt, um was es eigentlich geht, dass es sich wie Arbeit anfühlt, diese Parts überhaupt zu greifen zu kriegen.

In den schlimmsten Momenten klingt Retrogott dann wie ein Gasthörer mit einer Wortmeldung nach einem Soziologie-Vortrag, der nach fünf Minuten Gefasel voller Namedrops und Einschübe eine unverständliche Frage in den Raum stellt. Eine von denen, die die Professorin aus Gewohnheit übergeht. Vielleicht muss man es einsehen, aber wenn Verses mit Sachen wie "Die Glieder der Kausalketten schwören sich auf Treue ein" anfangen, da könnte es dann tatsächlich ein Nebensatz zu viel gewesen sein. Noch ein Beispiel: "'Du bist, was du isst, also werde, der du frisst', sagt sich der schwerelose Erden-Fetischist". Es tut mir leid, aber was zur Hölle will der Künstler uns sagen? Der Mann reimt gefühlt auf jedem zweiten Song "-tion" mit "-tion", und beim drölften "Nation" auf "Produktion" auf "Inflation" vermisst man ihn irgendwann klammheimlich doch, den nicht darauf folgenden "du Hurensohn".

Ich will nicht so rüberkommen, als hätte ich per se ein Problem mit schwerfälligen, deepen Texten. Es gibt sehr viel aus diesen Alben zu wringen, wenn man die Texte wieder und wieder liest – und selbst, wenn es einfach nur die Ästhetik von extrem verdichteter Sprache ist, gibt es ja viel Präzedenz dafür. Rapper wie Kool Keith, die den Retrogott offensichtlich inspirieren, aber auch Leute wie Aesop Rock oder Ka haben diese wortreichen, undurchdringlichen Alben, bei denen man eine Weile braucht, bis man durchsteigt.

Ich würde aber argumentieren, dass all diese Artists Alben machen, die eine Welt aufziehen, in die sich das Abtauchen wirklich lohnt, die immersiv arbeiten, eine gewisse Atmosphäre aufbauen. Das hier? Erstmal: Es hat einen Grund, dass man beim Schreiben schon am Anfang lernt, auf die supersperrigen Worte zu verzichten. Deskriptiv zu arbeiten, zu umschreiben, Verben über Nomen, show, don't tell. Das hier ist ein kontinuierliches Geballer von nicht nur sperrigen, sondern auch emotional völlig nichtssagenden Begriffen. Nichts gegen Hulk Hodn, der schon ein paar der coolsten BoomBap-Beats der deutschen Rapgeschichte gemacht hat, er bemüht sich auch mit dem sonnenschweren Album-Artwork und der etwas unterschwelliger, relaxten, fast ein bisschen Vaporwave-ig anklingenden Jazz-Rap-Produktion um ein Motiv. Aber der Retrogott hält sich in einem Wortfeld auf, das farblich eine Reichweite von ein paar Beigetönen umspannt. Es wirkt, wie per Scherencollage aus einer Wissenschaftszeitung zusammengeschnipselt.

Die Produktion ist sehr leicht, der Rap ist sehr sperrig, es gibt einen Kontrast, aber keine so richtige Synergie, ich könnte nicht erklären, auf was für eine Atmosphäre oder was für einen emotionalen Effekt dieses Album zielt. Es ist interessant, aber es fehlt Leben. Es gibt ein noch größeres Problem: Der Flow vom Retrogott; ich weiß nicht, wie ich das sagen soll, aber: Er ist grauenhaft. Das ist keine handwerkliche Sache, die Reimschemata, die Technik, die Atemkontrolle, die Pattern, das ist alles immer noch sehr gut. Es sitzt schon alles. Aber seine Stimme klingt zum davonlaufen. Dieses Gepresste, viel zu Energische, als würde er jede Line für das Klügste halten, das je gerappt wurde. Es hat kaum Humor und keinen Swagger.

Als jemand, der wirklich mit der Leidenschaft von 1000 lodernden Sonnen liebt, wie dieser Typ mal gerappt hat, macht das mehr als alles andere auf "Der Urlaub Hat Nicht Stattgefunden" perplex. Es nimmt ihm alle Lockerheit, alle Süffisanz, mehr noch: Es ebnet seine Delivery komplett ein, er konnte früher auch echt teils nicht unkomplexe Lines und Spielereien performen, dass sie aufs erste oder zweite Hören eingeleuchtet haben. Das hier, das ist einfach nur Arial, Schriftgröße 12, Blocksatz monoton durchgerattert. Der Kerl heute mag schlau sein, aber früher war er mal stimmungsvoll, witzig und schlau. All die Songs wollen ja vermutlich sein wie "Coffee To Go", ein ebenso verkopfter und philosophisch weitreichender Song von ihm. Aber an das Level an Absurdkomik, Stimmeinsatz und Timing kommt dieses Album durch die Bank nicht.

Das bindet dann auch das letzte, große Fazit zusammen: Dieses Album macht wirklich nicht sehr viel Spaß. Auf "Kein Rauch" gibt es einen Moment, in dem der Retrogott noch einmal seine Hip Hop-Bars auspackt und sich ein bisschen über Faker auslässt, aber es fühlt sich so falsch an. Das erste Mal in meinem Leben hatte ich da das Gefühl, dass der Kerl da gerade aufsetzen muss, was er erzählt. Das Lippenbekenntnis zur Rapmusik wirkt fadenscheinig. The proof is in the pudding - die Parts auf diesem Album fühlen sich nicht wie Kunst an, sondern wie Arbeit. Verkopfte Wortspiele über Gesetze neoliberaler Marktlogik zu rappen, macht dem Mann offensichtlich nicht so viel Spaß wie kurzweilige Punchlines über fake Rapper. Auch, wenn das vermutlich das weniger wichtige Thema ist.

Der realste aller Realkeeper, der deutsche Mr. Hip-Hawwp himself, scheint nicht mehr all zu viel Freude an traditionellem Rap zu haben. Um aber nicht auf einer ganz deprimierenden Note rauszugehen: Er hat dieses Jahr bereits ein Album rausgebracht, das hieß "Zeit Hat Uns" mit der Jazzband Perfektomat um Kontrabassist Joshua Oetz. Das macht textlich ähnliche Sachen wie "Der Urlaub Hat Nicht Stattgefunden", aber verlagert den Retrogott gänzlich ins Spoken Word, nutzt ihn eher wie einen Poeten und gibt der Lines mehr Raum zu atmen und der Themenpalette eine Klangfarbe, die passt. Dieses moderne, abstrakte Jazz-Getüte, irgendwie zwischen Third Stream und formlosen Spielern wie James Francies, es ist zwar immer noch schmerzhaft verkopft und sicherlich nicht für jedermann, aber es reagiert immerhin sinnvoll darauf, wie out there der Retrogott als Performer inzwischen ist.

Deswegen fühlt sich "Der Urlaub Hat Nicht Stattgefunden" auch wie das geringere künstlerische Achievement an, auch wenn es vermutlich vielen zugänglicher ist. Ich glaube nämlich nicht, dass der Retrogott an sich kein guter Artist mehr ist. Auch auf diesem Album gibt es die luziden Momente, die richtig geilen Bars. "Der freie Wille der Protestwähler / Programmiert den kollektiven Herzfrequenzzähler" hat zum Beispiel eine witzige Idee im Kern, "Ich höre Jesus weinen, armer Mann / Warum zieht er denn so viele Blender an?" ist klassisch. "Joseph Beuys hat seine Boys – in the Hood-DVD im Museum liegen lassen / Fettes Brot revidieren ihre Definition von fett". Das ist gutes Material, wenn man es mal auseinanderklambüsert. Aber der Retrogott hat als MC offensichtlich eine radikale Veränderung durchgemacht, deren Ende sich langsam abzeichnet, und Hulk Hodn als sein Partner in Crime hat diese nicht gespiegelt. "Der Urlaub Hat Nicht Stattgefunden" fühlt sich an wie das scheiternde Festhalten an einer nicht mehr ganz zeitgemäßen Dynamik. Und auch, wenn ein bisschen vom alten Glanz noch darin schlummert, frustriert es doch eher, wie weit es inzwischen davon entfernt liegt.

Trackliste

  1. 1. Intro 2023
  2. 2. Der Planet
  3. 3. Vermarkte n
  4. 4. Inflation (feat. Knowsum)
  5. 5. Kein Rauch
  6. 6. Der Urlaub Hat Nicht Stattgefunden
  7. 7. Der Ware Fetisch
  8. 8. Yeshua
  9. 9. In Umlauf
  10. 10. Unsere Gemeinsamen Kriege (feat. Max Czollek)
  11. 11. Zeitmaschine
  12. 12. Verlegenheit

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13 Kommentare mit 8 Antworten

  • Vor einem Jahr

    Uff ich hörs gerade zum ersten Mal. Das was hier beschrieben wird kann man sehr gut nachvollziehen. Kurt Huss war einfach Gott. Jetzt ist "sperrig" fast schon eine freundliche Beschreibung dieser endlosen Wortketten. Ich will Rap hören, nicht mein Soziologie-Studium aufwärmen.

  • Vor einem Jahr

    Bin gespannt. Aber auch als großer Fan fand ich Kurt vorher schon auf Albumlänge oft zu anstrengend. Bei dem immensen Output sind 1-2 nice Songs pro Album aber dennoch gut für eine nice Playlist.

  • Vor einem Jahr

    Das Album ist, im Gegensatz zu den letzten paar Alben, ziemlich fresh und haben mich sehr an Der Stoff, aus dem die Regenschirme sind und Fresh und umbenannt erinnert. Sicher sind da viele kOmPlIzIeRtE WöRtEr für einen informativen Text, aber das ist kein informativer Text. Das ynk das Schreiben von Raps mit dem Schreiben von Artikeln und Reviews vergleicht ist auch mal wieder sehr bezeichnend.

    Es war immer des Retrogotts Stärke mit Wörtern und Bedeutungen zu jonglieren, absurde Bilder zu zeichnen und Assoziation zu ziehen, wo andere sie nicht sehen. Und das klappt hier spitze. Und mehrere Lacher sind auch dabei, zumindest wenn mensch Kurts Humor teilt: "Natürlich war Adorno ein alter weißer Mann, aber wenigstens hat er noch Adorno gelesen!" aus kein Rauch z.B., wo Kurt auch ziemlich naise flowt.

    Hulk Hodns (und Knowsums) Beats tun ihr übriges. Kann mensch auch genießen, ohne auf die Texte zu achten, insbesondere da die Flows sich gut einfügen.

    Die radikale Veränderung, die ynk proklamiert, sehe ich nicht. Retrogott rappt noch wie 2009. Genau so ein Quatsch, wie dass Kurt kein Bock mehr auf Rap hätte.

    4/5