laut.de-Kritik

Ein Feuerwerk der Gefühle, euphorisch und therapeutisch zugleich.

Review von

"Es ist ein sehr erwachsenes Album, denn es wird wirklich erst richtig verstanden, wenn man erwachsen wird und auf Erfahrungen zurückblicken kann, die man als Kind hatte", beschreibt Rina Sawayama ihr neues Album "Hold The Girl". Um ein derartiges Werk mit stolzem und erwachsenem Blick auf die eigene Jugend zu kreieren, brauchte sie zuerst einen seelischen und perspektivischen Umbruch. Das Resultat ist zweieinhalb Jahre nach ihrem Debütalbum "Sawayama" jedoch eindeutig: Die Rina Sawayama, die damals mit ihrem emotional zerrissenen Erstlingswerk wie ein Meteor in die Pop-Welt einschlug, existiert heute kaum mehr.

Ein derartiger Umbruch entsteht natürlich nicht ohne Veränderung, und diese gab es in Sawayamas Welt gerade auf emotionaler Ebene über die vergangenen Jahren hinweg zu Genüge. Seit Release ihres ersten Albums hat sie sich inzwischen als eine gefragte Persönlichkeit innerhalb der Pop-Welt etabliert und mit einer Rolle im kommenden "John Wick: Chapter 4" sogar den Sprung auf die große Kinoleinwand geschafft. Doch "Hold The Girl" steht im Zeichen völlig anderer Veränderungen: "Es geht um Eskapismus. Es geht darum, sich um sich selbst zu kümmern, um Neubeelterung und sich selbst zu finden."

Sawayamas familiäre Verhältnisse spielten schon auf ihrer ersten LP schon eine omnipräsente Rolle. Auf "Hold The Girl" gelingt es ihr jedoch, prägende Erinnerungen der Vergangenheit aus einer hart erarbeiteten, gesunden Distanz zu betrachten. Verflogen sind emotionale Zerrissenheit und Schutzlosigkeit inmitten einer unaufgeräumten, ungeklärten und kryptischen Gefühlslandschaft. Vielmehr ist es ein befreites Auftreten, das nicht zuletzt durch eine intensive Therapie, die einige Kindheitserlebnisse aufarbeiten sollte, langsam an die Oberfläche durchsickern konnte.

Wer weiß, ob andernfalls Songs wie das vor Kraft strotzende "Catch Me In The Air" überhaupt jemals hätten entstehen können. So reminisziert Sawayama jedoch die oftmals komplizierte Beziehung zu ihrer alleinerziehenden Mutter aus einer Sichtweise, die es ihr inzwischen ermöglicht, nicht nur eine, sondern beide Seiten der Beziehung und daraus resultierende Entscheidungen und Handlungen zu verstehen. "Save each other in every way / Feel the fears as we float in the sea / Look at us now, way past the clouds that haunted your dreams / I hope that you're proud", bekräftigt sie den Bund zwischen Mutter und Tochter inmitten einer energiegeladenen Pop-Punk-Atmosphäre mit treibender Bass-Line, druckvollen Drums und einer von unzähligen mitreißenden Gesangseinlagen.

"Catch Me In The Air" fungiert wie eine Blaupause für das kristallklare Mindset, das sich auf dem gesamten Album wiederfindet. Gleichzeitig entsteht der Eindruck, dass sich auch ihre verrückte künstlerische Ausgelassenheit und der Drang, bombastische Songs zu schreiben, dadurch nur noch mehr entfaltet. "Ich mag es, verrückte Ideen zum Leben zu erwecken", bringt sie ihre künstlerische Herangehensweise kurz und knapp auf den Punkt. Und während "Sawayama" bereits in vielerlei Hinsicht einer wilden Achterbahnfahrt durch verschiedenste Genrefusionen glich, steht "Hold The Girl" seinem Vorgänger in kaum etwas nach. Da verwundert es kaum, dass Aufmerksamkeit fordernde Songs wie der Pop-Rock-Kracher "Hurricanes" oder der PC Music-angehauchte Hyperpop-Track "Imagining", der ihre langjährige gute Freundin Charli XCX in jeglicher Hinsicht stolz machen dürfte, auf Stücke wie "Minor Feelings" oder "Forgiveness" treffen, die auf musikalischer Ebene für ihre Verhältnisse schon fast verhalten sind.

Abermals sind es dabei vor allem Sawayamas Worte, die ihre Songs noch mehr als die weitestgehend grandiose Pop-Produktionsarbeit ihres vertrauten Kollaborationspartners Clarence Clarity und weiterer Produzenten wie Paul Epworth und Stuart Price auf das nächste Level befördern. Denn selbst Tracks wie das zu chaotische "Frankenstein" oder "Holy (Til You Let Me Go)", das gerade im Refrain gefährlich nah an ESC-Niveau heranreicht, liefern so zumindest auf lyrischer Ebene eine Gewichtung, die den Finger noch einmal vom Skip-Button abhalten.

Wenn jedoch die instrumentale Dimension mit Sawayamas Wortgefühl wie in den meisten Fällen harmonisch und thematisch ineinandergreift, entsteht pure Magie. So kanalisiert sie ihre innere Lady Gaga, als sie auf "This Hell" scharfzüngig und sarkastisch den öffentlichen Umgang mit Ikonen wie Britney Spears, Prinzessin Diana und Whitney Houston anprangert und im selben Atemzug gleich jegliche Art von Queerfeindlichkeit verbal vernichtet ("Saw a poster on the corner opposite the motel / Turns out I'm going to Hell if I keep on being myself / Don't know what I did, but they seem pretty mad about it / God hates us? Alright then / Buckle up, at dawn, we're riding"). "Your Age", das mit unzähligen digitalen Fragmentschnipseln, verzerrten Vocal-Passagen und aggressivem Beat genauso gut aus Grimes‘ Feder stammen und der Soundtrack für eine verkorkste Dystopie sein könnte, rechnet an anderer Stelle wiederum mit der Art von Erwachsenen ab, die es nicht zustande bringen, sich anderen gegenüber ihrem Alter entsprechend zu verhalten.

Einmal mehr hat es sich Sawayama somit zur Aufgabe gemacht, mit diversen Pop-Konventionen zu brechen und verschiedenste Genres, Inspirationsquellen und Gedankengänge zu vereinen. Einmal mehr resultiert daraus ein Album, dessen Ambition wie auch Umsetzung man meist nur bestaunen kann. "Hold The Girl" zeichnet eine emotionale Reise, die einen triumphalen Weg der Besserung rekonstruiert, die Geschichte einer geheilten Seele erzählt und ihre Protagonistin wie einen Phönix porträtiert, der in voller Pracht aus der Asche emporgestiegen ist. Deshalb bleibt nach dem Schlusstrio aus "Send My Love To John", einer bittersüßen Country-Darbietung über den langsamen Geisteswandel eines homophoben Elternteils, der Power-Ballade "Phantom" und dem lebensbejahenden "To Be Alive" auch nichts anderes übrig, als sich der Wirkung ihrer neu gefundenen und hochansteckenden Euphorie hinzugeben.

Trackliste

  1. 1. Minor Feelings
  2. 2. Hold The Girl
  3. 3. This Hell
  4. 4. Catch Me In The Air
  5. 5. Forgiveness
  6. 6. Holy (Til You Let Me Go)
  7. 7. Your Age
  8. 8. Imagining
  9. 9. Frankenstein
  10. 10. Hurricanes
  11. 11. Send My Love To John
  12. 12. Phantom
  13. 13. To Be Alive

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4 Kommentare mit 8 Antworten

  • Vor einem Jahr

    Bleibt immer noch Kernschrott, wie Platte Nummer 1. Aber solange es ihr hilft, solche Musik zu machen, will man ihrem therapeutischen Prozess auch nicht im Wege stehen :)

  • Vor einem Jahr

    Insgesamt ein für Ihre Standards durchschnittliches Album, kommt in keiner weise auch nur im Ansatz ans Debüt ran. ESC Niveau triffts meist- teils leider zu seicht und eingefahren (Catch me in the air, Phantom), die paar songs die dann etwas ausbrechen und etwas mehr versuchen sind super (Your Age, Frankenstein).

  • Vor einem Jahr

    "alleinerziehende Mutter" my ass, die ist so was von überprivilegiert dass sie sich sämtliche Wohlstandskrankheiten angeeignet hat und einen auf pansexual, verwirrte gender identity und allgemeine Opferkultur (race, gender, mental health, vulnerable, phobic) macht

    • Vor einem Jahr

      Dieser Kommentar wurde vor einem Jahr durch den Autor entfernt.

    • Vor einem Jahr

      Diese Wohlstandsphänomene haben aber auch eine halbwegs erlösende Krückenfunktion. Da sowieso kaum mehr jemand nicht von der Ökonomie gefickt, und jede grundsätzliche Besserung der Aussichten auf ein gutes Leben mehr und mehr zu einer irren Utopie wird, können sich ein paar Randgruppen mal etwas weniger gefickt vorkommen als der Rest. Ist nicht zwangsläufig sinnvoll oder hilfreich, aber sich ab und zu für den Mittelpunkt der Welt zu halten (und sei es als dezent paranoider Opfermythos) ist vielleicht tröstend oder zumindest ablenkend. No harm done, will ich sagen :)

    • Vor einem Jahr

      Du redest wie ein AfD-Bot auf Twitter oder Friedrich Merz.

    • Vor einem Jahr

      Ach ja? Und du redest wie eine Kuh.

      Nee, keiner von denen wäre so freundlich oder antikapitalistisch.

    • Vor einem Jahr

      @Skeptisch
      Und warum jammerst Du jetzt hier rum?

    • Vor einem Jahr

      Und, als ob sich das ausschließen würde. Guck dir "Kapitalismuskritiker" bei den Leerdenkerdemos an.

    • Vor einem Jahr

      Die gibt es da? Dann aber maximalst als Strohmann. Wie auch immer - die Entsprechenden würden mit purer Verachtung reagieren. Die könnte ich angesichts meiner Peer Groups nicht mal versuchsweise aufbringen. Oder kurz: Vielleicht ist nicht alles gleich 100%ig gut oder 100%ig verkehrt, hm? :)

  • Vor einem Jahr

    "die wie ein Meteor in die Pop-Welt einschlug" - von dem Einschlag ist in den Charts aber wenig zu spüren gewesen.