laut.de-Kritik
Wenn sich der Stress der Großstadt verflüchtigt.
Review von Giuliano BenassiDass der Singer/Songwriter aus der Großstadt Toronto ausgerechnet nach Stratford, Ontario gezogen ist, entbehrt nicht einer gewissen Ironie: Aus der beschaulichen Ortschaft machte sich einst ausgerechnet Justin Bieber auf nach Los Angeles, um Popstar zu werden.
Diesen Drang kennt Ron Sexsmith mit 56 nicht mehr. Dass er sich in der neuen Umgebung pudelwohl fühlt, zeigt sich gleich zu Beginn am Vogelgezwitscher seines nunmehr 16. Werks. "Wir sind im Winter umgezogen, und ich stellte mir vor, wie schön es im Frühling sein würde", erklärt er den Titel des ersten Stücks "Spring Of The Following Year". "Wir haben Hasen im Hof und sind auf allen Seiten von Bäumen umgeben, sodass uns massenweise Vögel besuchen. Jeden Morgen höre ich Kardinäle, und wir hatten eine Ente im Hof. Vögel habe ich in Toronto nie wirklich bemerkt", beschreibt Sexsmith in der offiziellen Pressemitteilung.
Die neue Umgebung habe ganz allgemein für Inspiration gesorgt. "Unmittelbar nach meiner Ankunft fühlte ich, wie sich diese enorme Stresswolke verflüchtigte, und all diese Lieder fingen zu sprudeln an. Ich lief jeden Tag am Fluss entlang in die Stadt und fühlte mich wie Huckleberry Finn. Das hatte einen wirklich großen Einfluss auf meinen Gemütszustand", erklärt er weiter.
Etwas Selbstironie schadet nicht, wie Cover und Albumtitel zeigen, denn um bloße Einsiedelertum handelt es sich hier sicherlich nicht. Eher bezieht sich Sexsmith auf den Umstand, dass er fast alle Instrumente selbst einspielte. Zur Seite stand ihm noch sein langjähriger Schlagzeuger Don Kerr, der auch die Produktion übernahm und eine entscheidende Frage stellte: "Warum machst du nicht eine dieser Paul McCartney-Platten?".
Sexsmiths direkte Antwort darauf heißt "You Don't Wanna Hear It", das auch von McCartneys einstiger Bands Wings stammen könnte. Doch den Ex-Beatle hört man auch an anderer Stellen heraus - das kennt man vom Kanadier. Beherzt greift Sexsmith zu Klavier, Keyboard, Bass und Gitarren, letztere gleichwohl weniger präsent als auf vielen seiner früheren Alben.
Stellenweise trägt er etwas zu dick auf, etwa bei der Klavierballade "Whatever Shade Your Heart Is In", die ohne Streicher aus der Konserve besser geklungen hätte. Doch gelingt es Ron stets, die für ihn typische melancholisch angehauchte und dennoch zuversichtliche Pop-Atmosphäre zu erzeugen, die diesmal noch entspannter klingt als sonst.
Der Opener macht nebenbei auch Hoffnung in Zeiten von Corona, da die Veröffentlichung des Albums auf den Höhepunkt der ersten Epidemiewelle datiert. "Ich wusste nicht, dass wir auf diese schreckliche Situation zusteuern würden, in der wir uns jetzt befinden", sagt er in einem Interview. "Aber ich bin froh, dass ich ein positives Album herausbringe. Das gilt besonders für "Spring Of The Following Year". Es ist ein Lied über die Zeit danach und die Vorfreude auf etwas".
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