laut.de-Kritik
Flamenco goes international. Rosalía sei Dank!
Review von Holger GrevenbrockIn ihrem Heimatland Spanien kennt die Euphorie um Rosalía keine Grenzen. Die steigenden Klickzahlen ihrer Videos, fünf Latin Grammy Awards allein für ihre Single "Malamente" und ein erst kürzlich über die Bühne gegangener Auftritt bei den EMAs belegen dies an der Oberfläche. Als Revolutionärin des Flamenco wird sie gefeiert oder verdammt, fest steht, dass man im lateinamerikanischen Musikraum dieser Tage am Phänomen Rosalía nicht vorbei kommt.
Langsam aber sicher erreicht auch den Rest Europas und die USA die Kunde von einer Sängerin, die den so auf seine Traditionen bedachten Flamenco ins Hier und Jetzt katapultiert. "El Mal Querer" gerät zur aufregenden Bestandsaufnahme einer Künstlerin, die mit ihrer Musik, aber auch ihren Videos und Live-Auftritten ein dickes Ausrufezeichen im Pop setzt.
Dass sich darüber nicht alle erfreut zeigen, ist kaum verwunderlich. Flamenco gilt nach wie vor als die Musikform, die einer Vielzahl von Kulturen in Spanien zu ihrem Selbstverständnis verhilft. Insofern entzündete sich in der jüngeren Vergangenheit eine Debatte, in der ihr Puristen fehlenden Respekt gegenüber den Traditionen des Genres vorwerfen. Über die Musik hinaus sind es Zugehörige der Sinti- und Roma, die sie der Vereinnahmung von Symbolen und Ikonen beschuldigen.
Eine Erneuerung des Flamenco geht daher ganz automatisch mit der Gefahr einher, als Projektionsfigur einer nationalen wie kulturellen Debatte herhalten zu müssen. Rosalía ist nicht die erste, an der sich dieses Phänomen verfolgen lässt. Camarón de la Isla, in Spanien ein Name wie Donnerhall, begründete damals den Nuevo Flamenco, musste dafür jedoch harsche Kritik über sich ergehen lassen.
Wie ihr großes Vorbild Camarón mit seinem Meilenstein "La Leyenda Del Tiempo" wagt sich nun auch Rosalía an ein Konzeptalbum, das die Grenzen des Genres sprengt. Vorbild für die elf Songs, die zugleich als einzelne Kapitel samt Überschriften funktionieren, ist ein aus dem 13. Jahrhundert stammender Roman, der in okzitanischer Sprache verfasst wurde, eine der drei Amtssprachen Kataloniens. Die faszinierende Spannung zwischen Altem und Neuen, Tradition und Innovation, spinnt den roten Faden der LP.
Thematisch kreisen die 13 Songs um eine leidenschaftliche Beziehung, die sich in Eifersucht, Streit, Wehklagen oder auch Ekstase ergeht. Die einzelnen Titel der Songs bilden somit immer auch Stationen ab, die das Paar durchschreitet. Musikalisch gerät dieser Tour de Force-Ritt ungemein abwechslungsreich. Rosalía, dem Flamenco verfallen seit ihrem 13. Lebensjahr, gelingt es mühelos mit dem immer neuen Tempo, den Höhen und Tiefen, den lauten und leisen Parts Schritt zu halten.
Und so ist auch die Spannung zwischen den Songs ganz wesentlich für das Funktionieren des Albums. Ein Track wie "De Aquí No Sales" wäre isoliert betrachtet nur schwer vorstellbar. Völlig abrupt endet der Track, nachdem sich Rosalía mit Palmas und abgehackten Wortfetzen in einen regelrechten Rausch singt. Statt totaler Ekstase erwartet den Hörer Stille und schließlich "Reniego", das ohne perkussive Elemente auskommt, dafür mit dramatischen Streichern auftrumpft.
Songs wie "Reniego" oder das traumwandlerische "Nana" halten die Zeit an. Letzterer breitet einen warmen Synthi-Teppich aus, auf dem sich der leicht gepitchte Gesang Rosalías entfaltet. Die besondere Dynamik, die aus Uptempo-Nummern und in ihrer Langsamkeit beinahe episch geratene Songs resultiert, spürt zugleich das Potenzial auf, das in der Synthese aus Pop und Flamenco verborgen liegt.
Seit ihrem noch vom klassischen Flamenco inspirierten Vorgänger "Los Ángeles" hat Rosalía eine erstaunliche Wandlung vollzogen. Sie ist zur Künstlerin gereift, die Folklore als zentrales Gestaltungselement der eigenen Kunst miteinfließen lässt und zugleich über ein Charisma verfügt, das sie über die eigenen Landesgrenzen hinaus strahlen lässt. Im Kosmos Rosalía dürfen diese Widersprüche nebeneinander bestehen, ohne auf eine Auflösung hinzustreben. "El Mal Querer" ist der aufregende Zwischenhalt dieser Entwicklung; ein exzellentes Popalbum, das vor Ideenreichtum nur so überquillt. Olé!
3 Kommentare mit einer Antwort
Mag eher das Traditionelle von Estrella Morente in dem Bereich, aber das liest sich interessant, gerade was das Konzept betrifft. Höre auf jeden Fall mal rein.
Ungehörte 5/5 für die Leuchtvagina.
Ne mal im Ernst, ziemlich grausiges Albumcover.
Ansonsten hat das Album aber wohl schon alleine deshalb eine Existenzberechtigung:
"...eine Debatte, in der ihr Puristen fehlenden Respekt gegenüber den Traditionen des Genres vorwerfen"
Völlig Wahnsinnig das Album.
"Pienso en tu mira" gehört zum besten.