laut.de-Kritik

Kämpferisches Brecht/Weill-Update des Goldenen Zitronen-Sängers.

Review von

"Unabhängigkeit ist keine Lösung für moderne Babys / Sie wissen nicht wie man freien Geist benutzen kann." Mit der Biografie des erfolgreich Unangepassten im Rücken klagt Schorsch Kamerun auf "Der Mensch Lässt Nach" die neue Generation der Angepassten an.

Mit dieser Biografie nämlich ist der Sänger der Goldenen Zitronen paradoxerweise, wie er im Interview selbst sagt, zum gefragten Theater-Regisseur geworden. In dieser Position verfolgt er seit mittlerweile gut zehn Jahren unbeirrbar sein erstes Anliegen: Eingreifen in Diskurse, Aufdecken der Widersprüche der durch den Neoliberalismus umgekrempelten Welt.

Dort, also an Theatern in Leipzig, Köln, Hamburg, München und Düsseldorf, entstanden die hier versammelten Lieder innerhalb von zwei Jahren als Teil verschiedener Aufführungen. Aus unzähligen Gesprächen soll während der Arbeit an den Stücken ein "kollektiver Sound" hervor gegangen sein, aber natürlich spricht aus jedem Song am Ende doch die Stimme Kameruns. Auch wenn die Ex-Merricks Salewski und Carl Oesterhelt (heute auch bei F.S.K.) und der Noise-Künstler Anton Kaun aka Rumpeln am Entstehungsprozess der Musik beteiligt waren, erkennt man doch überall Kameruns Handschrift.

"Ich weine um Jemen / wegen der Scheiß DB / Ich weine um Syrien / Zuviel Milch im Kaffee", sprechsingt dieser in "Ich Meine Ich Weine" und beklagt damit die Beliebigkeit und die Ich-Bezogenheit weit verbreiteter Protest-Resthaltungen. Der Song kritisiert verkürzte Kapitalismus-Kritik und folgenloses Aufregen, wie sie der französische Résistance-Kämpfer Stéphane Hessel im Bestseller "Empört Euch!" formuliert. Gegen Ende schmiert die Nummer allerdings ins Didaktische ab, wenn Kamerun den Zeigefinger hebend auch noch "Vielleicht reicht das Geweine einfach nicht" hinzufügt. Mehrere Lieder des Albums kommen textlich eindeutiger und widerspruchsfreier daher als der typische Zitronen-Song.

Wie bei "Ich Meine Ich Weine" prägen schlichte Klaviertöne, der Elektronik-Noise von Anton Kaun, Glockenschläge und ein unrockistisches Schlagzeug die eine Hälfte der Titel. So auch das Anti-Gentrifizierungs-Stück "Kaufleute 2.0" oder der Come-Together-Aufruf "Ende Der Columbuszeit". Ein repetitives Piano und dissonante Saxophone, Klarinetten und Flöten tragen die andere Hälfte, Lieder wie die Selbstdarstellungs-Kritik "Übereigendarstellerei" oder das Angestellten-Porträt "Vergessen Auszumachen", bei dem manchmal der No Wave eines James Chance hervorblitzt.

Ansonsten ist natürlich Text wenn nicht unbedingt Party, so doch King: Die Musik auf "Der Mensch Lässt Nach" dient diesem und bewegt sich näher an eine aktualisierte Version der kämpferischen Theater-Musik von Bertolt Brecht, Kurt Weill und Hanns Eisler als am krachigen Diskurs-Punk der Goldis. Mit Absicht fehlt den Liedern auch jede Spur von Rock-Dynamik und Pop-Glanz, selten wird man sie in der Bar oder gar im Club hören.

"Unabhängigkeit Ist Keine Lösung" bildet vielleicht eine Ausnahme. Die reduzierte Keyboard-Melodie, die warmen Bass-Töne und die geisterhaften Hintergrundgeräusche sorgen für eine traumhafte, unheimliche Stimmung und zarten, poppigen Schimmer. Hier lässt Kamerun dann doch einmal eine harmonische Melodie zu.

Zeit seines Lebens, ob mit den Goldis, in seinem früheren Solo-Projekt Sylvester-Boy oder am Theater, hat sich Schorsch Kamerun gegen eindeutige Feindbilder gewehrt, hießen die nun Staat oder Bullenschweine. Stattdessen sucht er die Ursachen der andauernden Unterdrückung bei den Menschen und damit in Strukturen, die man mit Foucault "Selbsttechniken" oder "Gouvernmentalität" nennen kann. Selten allerdings klang das so nah an der Resignation wie im Titelsong. "Auf einmal war mir klar: Der Mensch kann nicht mehr." Die dagegen in Stellung gebrachte Utopie "Wir als Schar" ("Drohne (Dem iPhone In Sein Ohr)") klingt leider wenig überzeugend.

Trackliste

  1. 1. Ich Meine Ich Weine
  2. 2. Vergessen Auszumachen
  3. 3. Ende Der Columbuszeit
  4. 4. Club Of Rome
  5. 5. Flossen
  6. 6. Unabhängigkeit Ist Keine Lösung
  7. 7. Kälte Brennt Wie Feuer
  8. 8. Kinderzimmer
  9. 9. Kaufleute 2.0
  10. 10. Betrug
  11. 11. Übereigendarstellerei
  12. 12. Fremder, Seltener Tiger
  13. 13. Der Mensch Lässt Nach
  14. 14. Drohne (Dem iPhone In Sein Ohr)

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3 Kommentare

  • Vor 11 Jahren

    Der Schorsch war immer schon schräg, aber dieses Album rast an meinem Verständnis für Musik und Kunst vorbei.

  • Vor 11 Jahren

    Bei Porsche, Genscher, Hallo HSV haben sich die Zitronen über Punk-Klischees lustig gemacht - heute sind sie mehr Klischee-Punks als sonst jemand. Musik, die sich - selbst wenn man Noise, Atonales und Experimentelles mag - kein Mensch ernsthaft anhören kann. Dazu gesellschaftskritische Texte, die auch von irgendwelchen Kids stammen könnten. Und die Presse feiert es aus unerklärlichen Gründen immer noch ab.

  • Vor 11 Jahren

    Ach, aaron, so ein Quatsch. Klischee-Punks sind so ziemlich alle anderen als die Goldenen Zitronen. Während jene nämlich noch immer in stockkonservativer Gitarre-Bass-Schlagzeug-Besetzung Lieder übers Saufen zum Besten geben, sind die Zitronen tatsächlich unangepasst. Das eine ist verklärte Romantik und Nostalgie, das andere ein schräger, wütender und mordsintelligenter Ruf in einer absolut unpolitischen und beliebigen Gesellschaft.