laut.de-Kritik
Musikalisches Dokument der isländischen Identitätskrise.
Review von Christoph DornerAls "Með Suð Í Eyrum Við Spilum Endalaust", das fünfte Album der isländischen Märchenkönige Sigur Rós, im Sommer 2008 erschien, war es in der Retrospektive auch so etwas wie eine beschwingte Begleitmusik zu dem reichlich sorglosen Pumpkapitalismus, mit dem charismatische Finanz-Wikinger aus Reykjavik ausländisches Kapital gehortet hatten.
Aus den transzendenten, unglaublich soghaften Postrock-Crescendi, die von Fans stets auch als eine klassizistische Vertonung der mystischen Naturkulissen Islands und des vermeintlich völkischen Lebensgefühls seiner Bewohner abgehört wurden, entstieg in der Tendenz eine zwar weiterhin hemmungslos elegische Musik, die sich aber trotz des sirenigen Hopelandish noch offener als das Vorgängeralbum "Takk" zu anglo-amerikanischem Pop-Formalismus bekannte.
In jenem Sommer 2008 hatten sich die Konzerte von Sigur Rós von erhabenen Hochmessen der Kryptographie zu einer bunt gefiederten Zirkusshow mit großem Krach-Ensemble und abschließender Böllerei aus der Konfettikanone ausgewachsen. Vielleicht waren die vier Isländer der ersatzreligiösen Ernsthaftigkeit ihrer Auftritte ganz einfach überdrüssig geworden – das Spaßdiktat wirkte auf so manchen Fan indes etwas befremdlich.
Im Herbst 2008 folgte auf die sorglosen Boom-Jahre Islands jedoch der große ökonomische, politische und letztlich auch sozialmoralische Crash, nachdem die drei größten privatisierten Banken des Landes infolge der weltweiten Finanzkrise innerhalb einer Woche zahlungsunfähig waren und die Regierung unter dem Eindruck eines nahenden Staatsbankrotts und wochenlanger Bürgerproteste zurücktreten musste.
Die Banken wurden in der Folge stur in die Insolvenz geschickt. Viele gut ausgebildete Isländer wanderten aus, während die Daheimgebliebenen bis heute unter ihrer nachhaltig geschwächten Währung zu leiden haben. Dennoch hat sich die trendsettige isländische Gesellschaft seither mit der Erinnerung an alte Werte und einem neuen Sinn für Bescheidenheit zumindest emotional stabilisiert.
Und Sigur Rós? Auch sie haben mit "Valtari", das sich in Bezug auf die Verwerfungen der jüngeren Landesgeschichte bedeutungsschwanger mit "Dampfwalze" übersetzen lässt, einer weiteren Pop-Expansion abgeschworen. Das Album klingt von den sanften, sakralen Chören von "Ég Anda" bis zum flirrenden Geigen-Panorama von "Fjögur Píanó" unverkennbar nach dem impressionistischen Sound-Trademark der vier Isländer, das für Fans allein schon ein beruhigendes Kaufargument ist.
Gleichwohl muss man - leider - konstatieren: Auch Sigur Rós scheinen bei den Sessions zu "Valtari" den Rezessionsblues gehabt zu haben. Dem Album fehlt es in seinem weitgehend form- und kraftlosen, zeitlupenartigen Charakter an der kompositorischen Zuspitzung alter Tage. Bei aller malerischen Schönheit der Umgebung: Sigur Rós haben schlichtweg auf eine Reise ohne allzu viele Sehenswürdigkeiten eingeladen.
Einzig die Rock-Symphonie "Varúð" ragt als dritter Track wie eine Trutzburg aus dem Album heraus. Sie beginnt mit Klavierklängen, atmosphärischem Hintergrundrauschen und Jónsis schwebendem Falsett zu markant einsetzendem Geigen-Pathos, ehe ein jugendlicher Chor das Refrain-Motiv übernimmt und die Band als druckvolle Postrock-Formation es im cinemascopischen Finale verstärkt.
Diese 6:37 Minuten rollen mit atemberaubender Wucht über einen hinweg. Nie zuvor waren Sigur Rós so nahe an aufgeblähtem Hollywood-Pomp. Um "Varúð" ordnen sie mit der schimmernden Vorabsingle "Ekki Múkk", die sich an "Vaka" vom 2002er-Album "( )" orientiert, und "Rembihnútur" mit seinem kurz angedeuteten, schunkeligen Refrain an zentraler Stelle zwei Songs, die ein besinnliches Klangbild ohne dynamisches Rock-Momentum anstreben.
Hört man hier mit einem guten Kopfhörer noch einmal etwas genauer hin, lässt sich erahnen, dass Sigur Rós auf "Valtari" vor allem unterhalb der Oberfläche ihrer Songs detailversessen an einer Art Ambient-Prog gewerkelt haben, der sich vor lauter bimmelnder, flirrender und gejauchzter Emphase im Hintergrund nicht mehr für eine Richtung entscheiden kann, in die sich die ellenlangen Songs entwickeln sollen.
Wo Sigur Rós früher ihre etwas milchigen Meditationsübungen am Ende ihrer Alben parkten, wogt nun die gesamte zweite Hälfte des Album dermaßen spannungslos und unentschlossen vor sich hin, dass sie eigentlich nur zur Einschlafmusik taugt. Hierin lässt sich "Valtari" eigentlich nur mit dem kaum bekannten Debüt "Von" aus dem Jahr 1997 vergleichen.
Insofern ist man tatsächlich versucht, das Werk als musikalisches Dokument einer isländischen Identitätskrise, aber auch als tröstliche Rückbesinnung auf die eigenen Anfänge zu begreifen. Sie liegen - der schwebende Kutter auf dem Albumcover deutet es an – nicht in der Finanzspekulation, sondern im Fischfang.
7 Kommentare
sehr gut geschrieben, kann ich nur zustimmen. das album hat mich von der grundstimmung stark an '( )' erinnert und ist dennoch meilenweit davon entfernt. 'varúð' ist auch für mich der einzige song, der herausragt. irgendwie scheint da die luft ein wenig raus zu sein, schade. mal schauen, wies weitergeht.
Erstaunlich. Ich finde, es ist ihre Beste seit Ágætis byrjun.
muss mal reinhören, immer wieder gut, die Truppe
Ist es ein 3/5 für Sigur Ros oder ein 3/5 im Allgemeinen? Sonst machen die ja eigentlich grandiose Scheiben ...
naja, auf punkte kannst bei laut meiner meinung nach sowieso nicht gehen. würde auf jeden fall mal reinhören, wenn du sigur ros magst sowieso. die scheibe scheint bei den 'fans' jedenfalls sehr unterschiedlich anzukommen. ich persönlich begrüsse zwar, dass sie weniger poppig als 'með suð Í eyrum við spilum endalaust' ist, finde sie aber im vergleich zu 'Ágætis byrjun' und '( )' trotzdem eher schwach. der rote faden fehlt, echte höhepunkte sind kaum vorhanden.. aber eben, mal reinhören!
Bis auf Varðeldur und Fjögur Piano find ich jeden Titel wunderschön; der detailverliebte Ambient-Charakter hat's mir angetan, der Kontrast zum Vorgängeralbum ist gelungen.