laut.de-Kritik

Traurig, sehr traurig und depressiv.

Review von

Mitte der 1990er haben Doppelalben keinen leichten Stand. Wenn überhaupt, greifen Guns N' Roses oder Bruce Springsteen zum Kniff, zwei Longplayer gleichzeitig zu veröffentlichen. Mitten hinein - um genau zu sein: ins Jahr 1995 - platzt das ambitionierte "Mellon Collie And The Infinite Sadness" der Smashing Pumpkins, dessen Songs sich thematisch am Tag im Leben eines entfremdeten Teenagers entlang hangeln. Inspiriert von Fleetwood Macs "Tusk" plant Billy Corgan ein "The Wall" für die Generation X. Zwei Platten aus dem Jahr 1979.

"Shakedown 1979 / Cool kids never have the time." Ausgerechnet das eingängige und über einem New Order-Groove zurückgelehnte "1979" avanciert zum Aushängeschild eines Albums, das in seiner musikalischen Schizophrenie alle Facetten der Band aufzeigt. Es ist nicht die sensible Pop-Melodie, die diesen Song zum Hit machte. Viel mehr trägt ihn ein Gefühl der Endlichkeit, der Melancholie.

Der niemals enden wollende Sommer der Jugend liegt urplötzlich doch in seinen letzten Zügen. Es wird nie mehr so sein, wie es einmal war. Ein Bild, das wie ein Damoklesschwert über den größten Erfolg der Pumpkins schwebt. Sinnbildlich für das, was noch kommen sollte.

"It was the best of times that came before the worst of times." Mit diesen vielsagenden Worten leitet David Wild in den Linernotes des Deluxe-Boxsets von "Mellon Collie And The Infinite Sadness" ein. Nach den Strapazen um die Aufnahmen von "Siamese Dream" schufen die Produzenten Flood und Alan Moulder der Band ein familiäres Umfeld, in dem sie funktionierten und nicht implodierten.

Die Aufnahmen glichen einer Klassenfahrt, seit langer Zeit stand wieder eine Band im Studio. "Wir vier arrangierten einen Großteil der Songs gemeinsam. Doch der wirklich große und entscheidende Unterschied war, dass Billy nicht mehr den großen Diktator gespielt hat", erinnert sich Gitarrist James Iha.

Kaum verhallt die letzte Klaviernote des Einstiegs "Mellon Collie And The Infinite Sadness", begräbt ein Orchester das schwärmerische "Tonight, Tonight". Chamberlins vertraute Schlagzeugwirbel kämpfen tapfer gegen die live eingespielten Geigen an, während sich Corgan von ihnen treiben lässt.

"Time is never time at all / You can never ever leave / Without leaving a piece of youth." Ein süß-bitterer Alternative-Song trifft auf Gustav Mahler. Ein Drama in vier Minuten. Passend zum Artwork des Albums und ganz Peterchens Mondfahrt, lassen sich die Pumpkins im Video von George Meiles Film-Meilenstein "Trip To The Moon" beeinflussen.

"Mellon Collie ist zu einem Drittel traurig, zu einem Drittel sehr traurig und zu einem Drittel völlig depressiv", erläutert Corgan zum Release des Albums. Wie um dies zu verdeutlichen, rasiert er sich während der Tournee den Schädel kahl. Aus dem Buben von nebenan wird über Nacht eine Kunstfigur. Eine verstörende Mixtur aus Paul, dem Alien, einem blutleeren Vampir und Lord Voldemort. Gallig und geifernd beißt sich das neu erschaffene Wesen durch das riffbetonte "Zero". "Emptiness is loneliness / And loneliness is cleanliness / And cleanliness is godliness / And god is empty just like me."

Mag Corgan nicht der größte Geschichtenerzähler sein, so trifft er doch mit kurzen Textpassagen immer wieder in das Mark der damaligen Jugend. Jeder zweite Satz liefert einen T-Shirt-Aufdruck. Einsam startet er in "Bullet With Butterfly Wings" mit "The world is a vampire / Sent to drain" bis sich seine Stimme, dem Wahnsinn nahe, im garstigen "Despite all my rage I am still just a rat in a cage"-Refrain mehrfach überschlägt. Das akustische und zum Heulen schöne "Sadlands"-Demo deutet an, wie viele Meilen das Lied anfangs vom wütenden Lärm der Single entfernt war.

In "Porcelina Of The Vast Oceans" mischen die Pumpkins Art- mit Grunge-Rock, jubeln der desillusionierten Generation X fast zehn Minuten lang heimlich Anleihen von Yes und Robert Fripp unter. Die Symbiose aus Meerjungfrau-Romantik und Hardrock funktioniert und liefert einen der märchenhaftesten Tracks in der Karriere der Band. Ein Unterwasser-Spielplatz, die Goo Lagoon, auf dem sich Corgan und Iha ihre Soli wie Plastikbälle zuwerfen.

"X.Y.U." gleicht einem Vernichtungsfeldzug gegen das klassisches Strophe-Refrain-Strophe-Refrain-Songwriting, aus dem niemand ohne blutende Nase hervor geht. Mit dem Kopf gegen die Wand und ohne sichtbare Struktur findet der Track trotzdem seinen direkten Weg ins Adrenalin. Dies ist aber nichts gegen den wilden und unrasierten Bonus-Track "X.Y.U. (Take 1)", der in düsterste Metal-Gefilde abdriftet.

Am anderen Ende der Härteskala findet sich "Cupid De Locke", das sich mit sanften Harfenklängen und einer Percussion-Sektion aus Salzstreuern und Scheren vom Rest abhebt. "Thru The Eyes Of Ruby" wirkt trotz seiner etwa 70 Gitarren-Spuren schlank und prägnant, flirtet zwischen zerklüfteten Schluchten mit der Eleganz von Roxy Music.

"Wir brachen in ein viel dunkleres, funkigeres und instinktiveres Terrain auf. "Mellon Collie" für diese Edition jetzt noch einmal neu zu entdecken, macht mir bewusst, was für eine Kehrtwende wir damals gemacht haben, als ein Großteil des Publikums ein noch kostspieligeres, nahezu ideales Album erwartete. Wir sind dagegen eher in die Tiefe gegangen und wollten dort unseren Reichtum entdecken, statt noch tiefer in die Tasche zu greifen", erinnert sich Corgan zum Release des Deluxe-Edition.

Diese ist mit ihren fünf CDs (92 Titel, 420 Minuten) und einer DVD mit Auftritten aus der Brixton Academy in London und dem Rockpalast ein wahrer Leckerbissen. In der liebevoll gestalteten Box von der Größe einer Schallplatte befinden sich zwei Bücher mit Anekdoten und Songtexten.

Neben Demo-Versionen bekannter Tracks tummeln sich allerlei wunderliche und schöne Momente auf den drei Bonus-CDs. Lagerfeuerballaden für die geschundene Teenagerseele ("Ugly", "Blank" und "Rotten Apples") lösen sich mit melodischen Gitarren-Instrumentals ("Bagpipes Drone", "Glamey Glamey" oder "New Waver") ab. Ein groovendes Riff bildet in "Transformer" den Grundstein für einen zornigen Refrain. Einen Luxus, den sich der von Breaks durchzogene Grunge-Rock von "Marquis In Spades" spart.

Verschroben und leicht angesäuselt schunkeln sich die Pumpkins durch den 1920er-Evergreen "My Blue Heaven". "Isolation", im Original von Joy Division, deutet die elektronische Ausrichtung von "Adore" bereits an. Unhörbare Home-Demos wie "Whishing You Were Real" bleiben zum Glück die Ausnahme.

Nach den Aufnahmen zu "Mellon Collie And The Infinite Sadness" war es vorbei mit den guten Zeiten. Bei einer Show in Dublin erdrücken die Massen ein 17-jähriges Mädchen. Nur kurze Zeit später nehmen Tour-Keyboarder Jonathan Melvoin und Schlagzeuger Jimmy Chamberlin in einem Hotel in Manhattan Heroin. Melvoin stirbt an einer Überdosis, Chamberlin wird zu seinem eigenen Schutz aus der Band geschmissen. Der Auftakt zu einer Serie von Niederlagen, von denen sich die Smashing Pumpkins nie wieder ganz erholen sollten. "Someone will say what is lost can never be saved."

Trackliste

Dawn To Dusk

  1. 1. Mellon Collie And The Infinite Sadness
  2. 2. Tonight, Tonight
  3. 3. Jellybelly
  4. 4. Zero
  5. 5. Here Is No Why
  6. 6. Bullet With Butterfly Wings
  7. 7. To Forgive
  8. 8. An Ode To No One
  9. 9. Love
  10. 10. Cupid De Locke
  11. 11. Galapogos
  12. 12. Muzzle
  13. 13. Porcelina Of The Vast Oceans
  14. 14. Take Me Down

Twilight To Starlight

  1. 1. Where Boys Fear To Tread
  2. 2. Bodies
  3. 3. Thirty-Three
  4. 4. In The Arms Of Sleep
  5. 5. 1979
  6. 6. Tales Of A Scorched Earth
  7. 7. Thru The Eyes Of Ruby
  8. 8. Stumbleine
  9. 9. X.Y.U.
  10. 10. We Only Come Out At Night
  11. 11. Beautiful
  12. 12. Lily (My One And Only)
  13. 13. By Starlight
  14. 14. Farewell And Goodnight

Morning Tea

  1. 1. Tonight, Tonight (Strings Alone Mix)
  2. 2. Methusela (Sadlands Demo)
  3. 3. X.Y.U. (Take 11)
  4. 4. Zero (Synth mix)
  5. 5. Feelium (Sadlands Demo)
  6. 6. Autumn Nocturne (Sadlands Demo)
  7. 7. Beautiful (Loop Version)
  8. 8. Ugly (Sadlands Demo)
  9. 9. Ascending Guitars (Sadlands Demo)
  10. 10. By Starlight (Flood Rough)
  11. 11. Medellia Of The Gray Skies (Take 1)
  12. 12. Lover (Arrangement 1 Demo)
  13. 13. Thru The Eyes Of Ruby (Take 7)
  14. 14. In The Arms Of Sleep (Early Live Demo)
  15. 15. Lily (My One And Only) (Sadlands Demo)
  16. 16. 1979 (Sadlands Demo)
  17. 17. Glamey Glamey (Sadlands Demo)
  18. 18. Meladori Magpie
  19. 19. Mellon Collie And The Infinite Sadness (Home Piano Version)
  20. 20. Galapagos (Instrumental) (Sadlands Demo)
  21. 21. To Forgive (Sadlands Demo)

High Tea

  1. 1. Bullet With Butterfly Wings (Sadlands Demo)
  2. 2. Set The Ray To Jerry (Vocal Rough)
  3. 3. Thirty-Three (Sadlands Demo)
  4. 4. Cupid De Locke (BT 2012 Mix)
  5. 5. Porcelina Of The Vast Oceans (Live Studio Rough)
  6. 6. Jellybelly (Instrumental/Pit Mix 3)
  7. 7. The Aeroplane Flies High (Turns Left, Looks Right)
  8. 8. Jupiter’s Lament (Barbershop Version)
  9. 9. Bagpipes Drone (Sadlands Demo)
  10. 10. Tonight, Tonight (Band Version Only, No Strings)
  11. 11. Knuckles (Studio Outtake)
  12. 12. Pennies
  13. 13. Here Is No Why (Pumpkinland Demo)
  14. 14. Blast (Fuzz Version)
  15. 15. Towers Of Rabble (Live)
  16. 16. Rotten Apples
  17. 17. Fun Time (Sadlands Demo)
  18. 18. Thru The Eyes Of Ruby (Acoustic Version)
  19. 19. Chinoise (Sadlands Demo)
  20. 20. Speed

Special Tea

  1. 1. Mellon Collie And The Infinite Sadness (Nighttime Version 1)
  2. 2. Galapagos (Sadlands Demo)
  3. 3. Cherry (BT 2012 Mix)
  4. 4. Love (Flood Rough)
  5. 5. New Waver (Sadlands Demo)
  6. 6. Fuck You (An Ode To No One) (Production Master Rough)
  7. 7. Isolation (BT 2012 Mix)
  8. 8. Transformer (Early Mix)
  9. 9. Dizzle (Sadlands Demo)
  10. 10. Goodnight (Basic Vocal Rough)
  11. 11. Eye (Soundworks Demo)
  12. 12. Blank (Sadlands Demo)
  13. 13. Beautiful (Instrumental-Middle 8)
  14. 14. My Blue Heaven (BT 2012 Mix)
  15. 15. One And Two
  16. 16. Zoom (7 ips)
  17. 17. Pastichio Medley (Reversed Extras)
  18. 18. Marquis In Spades (BT 2012 Mix)
  19. 19. Tales Of A Scorched Earth (Guitar Overdub Mix)
  20. 20. Tonite Reprise (Version 1)
  21. 21. Wishing You Were Real (Home Demo)
  22. 22. Thru The Eyes Of Ruby (Pit Mix 3)
  23. 23. Phang (Sadlands Demo)

DVD (Live)

  1. 1. Tonight, Tonight
  2. 2. 1979
  3. 3. Zero
  4. 4. Here Is No Why
  5. 5. Thru The Eyes Of Ruby
  6. 6. Porcelina Of The Vast Oceans
  7. 7. Jellybelly
  8. 8. Silverfuck
  9. 9. Disarm
  10. 10. Bullet With Butterfly Wings
  11. 11. Fuck You (An Ode To No One)
  12. 12. Muzzle
  13. 13. Cherub Rock
  14. 14. X.Y.U.

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