8. Januar 2002
"Manchmal möchte ich meine Gitarre ficken!"
Interview geführt von Klaus HardtWas die Jungs dem ausverkauften Saal boten, übertraf alle Erwartungen, so dass ich fast zu dem Sakrileg geneigt bin, den Auftritt in Bezug auf Spielfreude, Musikalität und Virtuosität mit der "Friday Night In San Franzisko" zu vergleichen. Welche Einstellung der Meister persönlich zur Musik, seiner Gitarre und Spiritualität hat, konnten wir nachmittags bei einem Interview erfahren.
Mr. Vai können sie uns etwas über das Line-up ihrer aktuellen Band erzählen? Wir waren sehr überrascht. Sie haben drei Gitarristen dabei und Billy Sheehan am Bass.
Es ist eine tolle Band. Ich suche mir gerne gute Leute, weil es besser für das Publikum und für die Band ist. Mit jemanden wie Billy Sheehan zusammen zu spielen, ist fantastisch. Er ist einzigartig, niemand auf der Welt spielt den Bass so wie er. Wir haben vor vielen Jahren schon miteinander Musik gemacht und ich habe immer gehofft, dass sich noch mal eine Möglichkeit bietet. Und jetzt haben wir eine perfekte Form dafür gefunden. Mit Virgil Donatti verhält es sich ähnlich. Er ist ein außergewöhnlicher Schlagzeuger. Als klar war, dass Mike Mangini, mein vorheriger Drummer, nicht bei der Tour mit machen kann, war ich sehr enttäuscht. Ich veranstaltete Auditions, aber was mir da geboten wurde, stellte mich nicht gerade zufrieden und ich wurde langsam nervös. Doch dann kam Virgil und er blies mich weg. Die Musik ist sehr anspruchsvoll. Bei den Produktionen verwende ich viele Gitarrenoverdups, mehrere Keyboardspuren und ähnliches. Die Gitarren-Parts sind sehr schwierig, mit vielen schnellen Harmoniewechseln usw.. Ich brauche also einen wirklich guten Gitarristen und Keyboarder. Tony MacAlpine ist ein kompletter Keyboarder und ein super Gitarrist. Und dann ist noch Dave Weiner dabei. Ich kenne ihn seit Jahren und er hat mich schon immer mit seinem Spiel beeindruckt. Außerdem ist er ein klasse Kerl. Mit drei großen Gitarristen habe ich die Möglichkeit fantastische Dinge zu machen, die man sonst nicht zu hören bekommt. Es ist eine andersartige, extravagante Erfahrung! Eine Freakshow!
Sie spielen also mit drei Gitarristen zugleich?
Ja, natürlich!
Die meiste Zeit?
Nein, nicht die meiste Zeit, das würde einen verrückt machen. Die Sache ist gut aufgeteilt. Meine Gitarre wird wahrscheinlich die lauteste sein.
Tony MacAlpine spielt dann fast immer Keyboard?
Er spielt beides, Keyboard und Gitarre.
Können sie das Verhältnis zwischen der Band und ihrem Gitarrenspiel beschreiben, wie sie zum Beispiel die Solos begleiten oder ähnliches?
Ich bin sehr streng, wenn es um Arrangements geht, aber es gibt auch viel Raum sich individuell musikalisch auszudrücken. Die Kompositionen sind eng gefasst und die Instrumente genau aufeinander abgestimmt. Wenn ein Solo gespielt wird oder ich eine Melodie spiele, muss die Begleitung stimmen und es darf nicht davon abgewichen werden. Die Band versteht das und respektiert das, denn sie sind Profis. Es ist keiner dabei, der meint, jetzt müsste er so viel spielen, wie er kann.
So gibt es also wenig Platz für Improvisationen?
Es gibt Improvisationen. Ich gebe jedem die Möglichkeit dazu, an einigen Stellen. Die Show basiert nicht in erster Linie auf Improvisation, sondern auf Komposition und Unterhaltung. Ich improvisiere sehr viel und spiele nicht die Solos genau so wie auf Platte und jeder kann auch mal solieren, aber es ist kein freies Spiel.
Auf der letzten CD, war jedes Stück einem anderem Land gewidmet. Gibt es ein europäisches Land, das ihr Favorit ist?
Jede Gegend hat ihren eigenen Charme. Ich habe italienische Vorfahren, so dass ich mich zu diesem Land hingezogen fühle. Die Menschen dort sind sehr leidenschaftlich und warmherzig. Das Essen ist fantastisch dort. Frankreich ist so reich an Kultur. Ich liebe es durch Paris zu laufen, die Atmosphäre dort ist einzigartig. In Irland ist es sehr malerisch, oder auch Deutschland hat seine Vorzüge. Ich mag viele Gegenden. Natürlich gibt es auch einige Plätze, wo ich nicht so gerne bin, aber das möchte ich jetzt nicht so breit treten.
Haben sie auf ihren Konzerttouren durch die verschiedenen Länder auch ihre Inspiration für die Stücke der letzten Platte erhalten?
Für die Stücke der "Ultraworld" habe ich mich mit der traditionellen Musik der verschiedenen Länder, in denen wir waren, beschäftigt. Ich habe ein sehr gutes Gehör. Wenn ich Musik höre kann ich sofort die Tonleiter, Artikulation, Instrumentierung, Taktart, usw. bestimmen. Also alles was einen bestimmten Musikstil ausmacht. Davon nehme ich dann einige Elemente und binde sie in den Kontext einer Rockband ein. Ich möchte nur ein wenig den Charakter des jeweiligen Stil in meiner Musik haben. Ich mache keine traditionelle Folklore und auch keine Weltmusik. Aber es war etwas Neues und Einzigartiges, was wir auf dieser Platte gemacht haben. Die Zusammenstellung ist interessant, weil sie Aufnahmen enthält aus so vielen Ländern: Rumänien, Bulgarien, Slowenien, Japan, Australien, Südamerika, Irland, Italien, Deutschland, Türkei... aus der ganzen Welt.
Wenn sie Stücke schreiben, wie entwickeln sie sie, was sind die einzelnen Schritte?
Songs entstehen auf unterschiedliche Weise. Manchmal habe ich ein Stück auf einmal in meinem Kopf und ich muss es nur aufschreiben. Oder ich spiele auf meinem Instrument herum und verschiedene Ideen entstehen. Es kommt auch vor, das irgendein Ereignis in meinem Leben oder sonst etwas wichtiges in der Welt mich inspiriert. Aber wie die Musik dann im Endeffekt zustande kommt und ich denke, das ist bei jedem Musiker gleich, ist ein innerer Vorgang, den ich nicht erklären kann.
Machen sie das komplette Arrangement und schreiben für jedes Instrument alles auf?
Das ist unterschiedlich, bei "Being With You In Paris" habe ich einen Chart geschrieben, bin damit zum Soundcheck und wir haben es dann geprobt. Abends musste die Band das Stück vom Blatt spielen. Bei "Giant Balls Of Gold" ist es anders. Das ist einfach, es kostete mich zwei Minuten, es zu komponieren.
Ah, das ist das Stück, das Polen gewidmet ist.
Ja. Eigentlich sollte das keine Doppel-CD werden. Ich hatte genug Stücke geschrieben, in denen ich musikalische Einflüsse von verschiedenen Ländern verarbeitet hatte. Dann gab es Lieder, die ich während des Soundchecks sehr schnell komponierte, die nicht nach irgendeinem bestimmten Land klingen, die ich aber einem Land gewidmet habe. "Giant Balls Of Gold" habe ich Polen gewidmet, da ich es vielleicht in Warschau geschrieben habe und es mich an die Stadt erinnert. Mit der Musikkultur von Polen habe ich mich nicht beschäftigt, so wie ich es mit Japan, Irland oder Australien getan habe.
Mein persönlicher Favorit ist das Lied für Bulgarien.
Sie meinen "Incantation"? Ja, das hat mich viel Arbeit gekostet und ist sehr kompliziert.
Spielen sie im Studio mehrere Instrumente? Zu manchen Lieder steht im Booklet ihrer CDs, dass sie alle Instrumente eingespielt haben.
Ich muss das erklären. Ich kann für alle Instrumente komponieren, aber ich kann nur Gitarre spielen. Dank der modernen Technik kann ich einen Klavier-Part in einen Sequenzer einspielen, der sich dann anhört, als hätte ein Konzertpianist gespielt. Aber ans Klavier setzten und einen Beatles-Song spielen, das kann ich nicht. Ich programmiere und niemand hat für mich jemals irgendeine Sequenz oder einen Sample in einen Computer eingegeben. Wenn sie ein Didgeridoo hören, habe ich das nicht selber gespielt, sondern nur eine Taste gedrückt.
So nun eine Frage speziell für Gitarristen: Was ist der Multi-Grace-Note-Effect? Ich habe das in einem Gitarren-Magazin gelesen, dass sie diese Technik bei einem Duett mit Joe Satriani spielten.
(Steve Vai nimmt die Gitarre, die neben ihm auf einem Sessel steht und führt den Effekt vor.)
Das ist eine Grace-Note.
(Ein Finger der linken Hand tippt auf eine Saite.)
Und das hier ist der Multi-Grace-Note-Effect.
(Vier Finger nacheinander schlagen den gleichen Ton an.)
Ah, ja!
Ja, und das kann man natürlich auch so machen...
(Die Finger fliegen leicht, geschmeidig und in einem irrwitzigen Tempo über das Griffbrett und verteilen den Multi-Grace-Note-Effect auf unterschiedliche Tonhöhen.)
Das hört sich interessant an.
Ja, sehr interessant und außerdem sieht es lustig aus. Man, kann das auch noch anders spielen...
(Vai spielt wieder Grace-Notes, aber diesmal immer die gleich Note auf unterschiedlichen Seiten, wodurch eine andere Klangfarbe entsteht.)
Nun ein kurze Frage, die aber vielleicht nicht so einfach zu beantworten ist: Warum machen sie Musik?
Mhmm,... ich bin dazu gezwungen. Ich konnte mir das nicht aussuchen. Manche Menschen werden Wissenschaftler, gehen in die Politik oder werden Journalisten, weil sie fühlen, dass das ihre Aufgabe im Leben ist und sie das ausfüllt. Ich bin gezwungen, ein Musiker zu sein. Ich hatte nie eine Wahl. Es kam nicht der Tag, an dem ich das beschlossen habe. Es war klar seit meinem sechsten Lebensjahr, dass ich ein Musiker bin und sein werde, ganz egal ob das gut oder schlecht für mich ist. Das war für mich immer die einzige Sache, die ich tun konnte. Das ist der Grund! Vielleicht hat es mit meinem Karma aus meinem letzten Leben zu tun, ich weiß es nicht.
Können sie sagen, was das Besondere für sie an der Musik ist?
Musik hat etwas Schönes und Vollkommenes. Es ist eine Belohnung, hören zu können, was man vorher in seinem Kopf hatte und was nun real wird, und die absolute Freude und Ehre, vor begeisterten Publikum ein Instrument zu spielen. Am Ende meines Lebens, bevor ich sterbe, würde es mich nicht wundern, wenn jemand zu mir käme und sagt: "Das war alles nur ein Traum." Ich bin jeden Tag dankbar dafür, dass ich dieses Leben führen darf und diese Fans habe. In anderen Teilen der Welt leben die Menschen von der Hand in den Mund und ich spiele heute Abend vor einem ausverkauften Haus. Ich meine, hey ...
Warum spielen sie Gitarre und nicht ein anderes Instrument?
Das ist lustig, als ich jung war, hatte die Gitarre etwas Brillantes. Sie erschien mir so schön, dass ich Angst vor ihr hatte. Seht sie euch an, wie sie aussieht. Ihre Form sieht wunderbar aus. (Er schaut sie an und fährt mit den Fingern über den Korpus.) Wenn man die Saiten anschlägt, klingt sie an jeder Stelle anders. Man kommt in direkten Kontakt mit den Saiten, wodurch man Töne ziehen kann und das Spiel so dynamisch ist. Wenn der Volumenregler aufgedreht ist, klingt sie verrückt. Ist der Regler herunter gedreht, ist der Sound sensibel und zärtlich. Die Möglichkeiten sind unendlich groß. Ich bin nur ein Kettenglied in der Gitarristenwelt. Jeder hat seinen eigenen Stil. Im Gegensatz dazu steht das Klavier, da wird nur eine Taste herunter gedrückt. Versteht mich nicht falsch. Ich liebe das Klavier und es gibt fantastische Pianisten, aber die Gitarre ist dagegen so dynamisch, sensibel und sexy... Manchmal möchte ich meine Gitarre ficken!
Was denken sie ist die Zukunft der Rockmusik, angesichts der großen Anzahl von Coverversionen, die im Moment veröffentlicht werden?
Ich denke, dies hängt stark mit der technischen Entwicklung zusammen. Die Gitarre ist ein sehr wichtiges Instrument in der Geschichte der Rockmusik und ihr Sound hat sich im Laufe der Zeit verändert. Er ist immer heavyer, lauter und fetter geworden. Die aktuellen Bands erzeugen eine Gitarrenwand. In den Achtzigern war es virtuoser und in den Neunzigern wurde auf dem Instrument herum geschrammelt. Ich weiß nicht, wie es weiter gehen wird, aber mit Sicherheit wird jemand kommen, der das Gitarrespiel revolutionieren wird. Er wird sich nicht anhören wie Jimmy Hendrix, Eddie Van Halen, Steve Vai, Yngwie Malmsteen, Curt Cobain oder Limp Biskit. Er wird Elemente all dieser Leute haben. Ich hoffe, wer immer es auch sein wird, dass er Musikalität mit seinem Instrument verbindet, weil das in der Musik unserer Zeit fehlt. Die Gitarre wird weiter eine wichtige Rolle spielen und ihre Bedeutung wird wachsen. Ich bekomme oft solche Fragen gestellt und ich muss sagen, das was im Radio läuft, ist nicht das Einzige, was ab geht. Ich bekomme jeden Tag Hunderte von Tapes zugeschickt von Leuten, die ihr Instrument lieben und versuchen, Großes zu erschaffen. Sie machen das nicht so beschränkt wie die Jungs von O-Town oder Ricky Martin beispielsweise. Popmusik ist nicht die ganze Welt. Da gibt es Leute, die jeden Tag aufstehen und darum kämpfen, eine künstlerische Aussage zu machen.
Jetzt eine Frage zu ihrer allgemeinen Lebenseinstellung. Was ist in ihrem Leben das Wichtigste und haben sich ihre Prioritäten im Laufe der Zeit geändert?
Für mich ist das Wichtigste, eine innere Ausgeglichenheit zu erreichen. Mit ihr erhält man das Wissen und die Möglichkeit, sein Leben besser zu bewältigen. Ich persönlich glaube, dass man mit innerer Ausgeglichenheit ein besserer Vater und Ehemann, ein besserer Musiker und ein besseres Mitglied der Gesellschaft ist. Ohne das spirituelle Gleichgewicht geraten die wichtigen Dinge aus dem Blickfeld. Jeder gibt seinem inneren Wohlbefinden unterschiedliche Bedeutung. Manche Menschen achten darauf überhaupt nicht.
Wie erreichen sie diese Ausgeglichenheit?
Ich versuche jeden Tag, auf jedes einzelne Ereignis im meinem Leben zu achten und es bewusst wahrzunehmen. Jeder hat die Möglichkeit, dies zu tun und damit auch eigene Entscheidungen für sein Leben zu fällen, egal ob er sich in einer hohen Position befindet oder ein normaler Mensch auf der Straße ist. Diese Entscheidungen haben Konsequenzen. Wir sind immer mit der Fähigkeit konfrontiert, uns weiter zu entwickeln oder Rückschritte zu machen. Ich meditiere, das ist in dieser Beziehung sehr wichtig für mich.
Gibt es eine Religion, der sie angehören?
Nein, ich denke, das ist gefährlich. Da kommt jemand, der göttlich erleuchtet ist und erzählt den Menschen, wie sie zu leben haben und wie sie mehr zu Gott und sich selbst finden. Die Leute machen aus diesen Lehren Religionen, die dann pervertiert und verdreht werden. Die Folge sind Kriege und all die Sachen, für die die organisierten Religionen verantwortlich sind. Ich folge fundamentalen Prinzipien, die wahr, in allen Religionen gleich und sehr einfach sind und die niemand leugnen kann. Das sind einfache, erhabene Prinzipien, die ich versuche im meinem Leben umzusetzen. Ich verurteile niemand, der sich einer bestimmten Religionsgemeinschaft anschließt oder Atheist ist. Das respektiere ich, das ist jedem seine freie Entscheidung.
Wie spiegeln sich diese Dinge in ihrer Musik wieder?
Wenn jemand einen kreativen Prozess einleitet, geht er in sich und beschäftigt sich mit den Dingen, die ihn am meisten interessieren. Manche schreiben Lieder über Politik, andere über Liebe, Affären, Sex, schnelle Autos oder was auch immer. Aus irgendwelchen Gründen, und da bin ich jetzt ganz ehrlich zu euch, suche ich mein ganzes Leben nach spiritueller Wahrheit. Ich spreche normalerweise nicht über diese Dinge, da sie sehr leicht falsch verstanden werden. Andererseits habe ich die technischen Möglichkeiten auf meinem Instrument. Diese beiden Seiten mischen sich in meiner Musik.
Noch eine letzte Frage: "Does Humor Belong In Music?"
(lacht) Ah, sie meinen Frank Zappa?
Ja.
Ich höre die Platte gerne, ohne sie jedoch bewerten zu wollen. Ich denke, es ist schon wichtig, das, was man macht und erreichen will, ernst zu nehmen. Aber sich selbst zu wichtig zu nehmen, ist albern.
Lachen sie manchmal ein wenig über sich selbst?
Ja, das mache ich. Schaut mich doch an, was ich auf der Bühne mache. In erster Linie möchte ich ein guter Entertainer sein. Die Leute haben Geld bezahlt und ich möchte ihnen eine gute Show bieten. Und manchmal mache ich seltsame Dinge auf der Bühne. Wenn ich nicht über mich lachen könnte, wäre ich der größte Poser auf der Welt.
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