laut.de-Kritik

Garage Prog-Abenteuer zwischen den Genres.

Review von

Wenn es eine Art von Harmonie in der Unruhe des Steven Wilson gibt, dann findet man sie in der Unstetigkeit der einzelnen Veröffentlichungen. Seit Porcupine Trees "On The Sunday Of Life" sucht der Wunderwuzzi des Prog-Rock nach einer eigenen Sprache. Diese Neugierde, mit seinen eigenen Möglichkeiten und den von außen hinzukommenden Einflüssen etwas Neues zu erschaffen, treibt ihn voran. Möglicherweise kam er seinem Ziel nie näher als auf seinem siebten Solo-Werk "The Harmony Codex".

Zu Beginn stehen Takt und eine Kälte, die über die gesamten 64 Minuten nie ganz vergeht. Auf dieser Basis verbindet der Brite Art Pop, Electronica, New Wave und Prog-Rock. All seine üblichen Stilmittel finden sich, doch bleiben sie diesmal vage und weniger greifbar, was eine allgegenwärtige Spannung erzeugt. Oft wirkt es nicht, als stünden wir bereits vor einem fertigen Gemälde. Viel mehr so, als sähen wir dem Künstler beim Malen zu. Als wären wir live bei der Erschaffung dabei, könnten jeden Pinselstrich auf der Leinwand verfolgen.

Lässt man das letztjährige Porcupine Tree-Release "Closure/Continuation" außer Acht, stellt "The Harmony Codex" den logischen Nachfolger zu "The Future Bites" dar. In der Form, wie Radioheads "Kid A" der logische Nachfolger von "OK Computer" war. Es ist die experimentelle Schwester, der aber noch derselbe Gedanke zugrunde liegt. So entsteht eine eigenartige, einzigartige Platte, die zwar an Genres kratzt, sich aber außerhalb davon positioniert.

Beachtet man, dass Wilson an dem Album alleine im Garagenstudio seines Stadthauses im Norden Londons arbeitete, könnte man es als "Garage Prog" bezeichnen. Die oft elektronische Herangehensweise sorgt gelegentlich in kurzen, unkonventionellen Passagen für Parallelen zu Zappas "Jazz From Hell". Langjährige Mitstreiter:innen wie Ninet Tayeb, Nick Beggs, Jack Dangers, Craig Blundell, Adam Holzman, Sam Fogarino und viele anderen schickten Wilson ihre Parts zu, die er mit seiner Musik kombinierte. Ein wirkliches Konzept liegt dem Werk hingegen nicht zugrunde.

Eine der Schwächen liegt in den Gesangsmelodien. Zwar singt Wilson zunehmend besser und harmoniert mit Ninet Tayeb, doch sind eingängige Segmente auf "The Harmony Codex" eher Mangelware. Passenderweise ragt gerade das von ihr geschriebene "Rock Bottom" deutlich heraus. Ein Duett zu dritt, bei dem Niko Tsonevs Gitarrenspiel allgegenwärtig bleibt. Das sphärische, tieftraurige Stück beginnen Wilson und Tyeb getrennt. Schritt für Schritt, Note für Note nähern sie sich an, bis sie schließlich eins werden. Doch im Grunde gehört das Lied ganz ihr und ihren unwirklichen Ausflügen, bis sie mit Niko Tsonevs brillanten Gitarrensolo verschmilzt.

Vieles bleibt Takt, Stimmung und meisterlich zusammengefügte Fragment-Collagen in einem atemberaubenden Sound. Der Opener "Inclination" beginnt nach kurzem Vorspiel als harter Rhythmus, an die frühen Nine Inch Nails-Alben erinnernd. Gefährlich, mechanisch, düster, bis Nils Petter Molvaers Trompete dem Stück eine neue Wendung schenkt, bis es kurzzeitig für Sekunden ganz verstummt. Wilsons einen Moment lang für sich stehende Stimme und Holzmans Rhodes Piano setzen es wieder in Gang. Das darauf folgende "What Life Brings" stellt sich hingegen als der traditionellste Song des Albums heraus.

Streicher führen zaghaft an "Impossible Tightrope", bevor diese schwelgerische Prog-Jazz-Electronica-Mischung explodiert. Ein wilder Ritt, getragen von Nate Woods fantastischem Schlagzeugspiel, das erst die Grundlage für Theo Travis' zündelndes Saxofon und Lee Harris psychedelisches Gitarrensolo legt: ein von einem ausufernden Chor begleitetes Abenteuer zwischen den Genres.

Im seltsamen "Actual Brutal Facts" verliert "The Harmony Codex" kurzzeitig das Gleichgewicht. Der nie wirklich funktionierende Track klingt mit seinen 1990er Effekten und dem düsteren Sprechgesang wie ein zurecht bisher von der Öffentlichkeit ferngehaltenes Stück aus Linkin Parks "Hybrid Theory"-Sessions. Weird. Das abschließende "Staircase" lässt diesen Ausrutscher jedoch schnell verzeihen. Die Ideen des Albums fügen sich ein letzten Mal zusammen, gipfeln in Tsonevs Gilmour- und Nick Beggs schlichtweg umhauenden Champan-Stick-Solo.

Dass "The Harmony Codex" keine Erwartungen erfüllt, dürfte wohl das am höchsten anzurechnende Gut Steven Wilsons sein. Nach so langer Zeit fügt er seiner Arbeit immer noch neue Aspekte hinzu und findet neue Möglichkeiten. Letztendlich hat das Album alles, das ihn ausmacht, und stellt doch eine neue Herausforderung dar.

Trackliste

  1. 1. Inclination
  2. 2. What Life Brings
  3. 3. Economies Of Scale
  4. 4. Impossible Tightrope
  5. 5. Rock Bottom
  6. 6. Beautiful Scarecrow
  7. 7. The Harmony Codex
  8. 8. Time Is Running Out
  9. 9. Actual Brutal Facts
  10. 10. Staircase

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10 Kommentare mit 3 Antworten

  • Vor 6 Monaten

    Muss denn dieses "Wunderwuzzi des Prog-Rock" jedesmal wieder sein? Zumal SW sich dem Prog ja gar nicht zugehörig fühlt (wenn ich mich da korrekt an ein älteres Interview hier auf laut.de erinnere)...
    Und wie ist denn dieser Verweis auf Jazz from hell gemeint? Habe vom SW Album bisher nur die Videos quergehört... aber zu den doch sehr wenig Pop/Rock referenzierenden Jfh-Synclavierstücken finde ich bei Wilson doch eher wenig Parallelen..

    • Vor 6 Monaten

      Ja, ist diesmal zur Abwechslung ein schwächerer Kabelitz. Da passt ziemlich wenig von den Vergleichen.

      Auch der Verweis von "OK Computer" zu "Kid A" ist ein dürftiger - die beiden sind nicht als verwandt zu betrachten. Klanglich natürlich nicht, aber auch inhaltlich nicht. Ein logischer Nachfolger wäre ggf. "Hail To The Thief" gewesen, wenn man so will. Aber auch laut Band sollte auf "Kid A" absolut alles anders sein. Yorke's Depressionen und Selbstzweifel hatten ihn hörbar an den Rand des Wahnsinns getrieben, und dies war ein Neuanfang, keine Weiterentwicklung von Altem.

  • Vor 6 Monaten

    Ich trau‘s mich kaum zu schreiben, aber ich vermisse Yan. Der hätte weniger stringent geschrieben, aber ggf. das Album besser verstanden. Kabelitz oszilliert mir da etwas zu sehr zwischen Phrasen und Polen.

  • Vor 6 Monaten

    Weshalb funktioniert "Actual Brutal Facts" nicht? Es erinnert mich auch nicht an Linkin Park, sondern hat bei mir sofort starke Assoziationen zu Faith No More hervor gerufen. Ein starkes Lied auf einem starken Album.

  • Vor 6 Monaten

    Tolles Album, das sich langsam entfaltet und dann immer weiter wächst. Wahrscheinlich sein bestes seit "Hand.Cannot.Erase" und da wird er natürlich nie wieder rankommen, deswegen hat die neue Platte meine Erwartungen mehr als erfüllt. Und die high-end "hier finden sie kein einziges Staubkorn"-Produktion ist ein Traum.

  • Vor 5 Monaten

    Nachdem ich das Ding jetzt seit Release ca. 16363835 mal gehört habe: klare 5/5. Hab leider keine Atmos-Anlage.

  • Vor 5 Monaten

    Also, ich gebe dem Album eine 5/5-Wertung. Es ist schade, dass in der Rezension kein einziges Wort über die verfügbare Atmos-Version zu finden ist. Im Gegensatz zu vielen anderen pseudo-mehrkanaligen oder Atmos-Produktionen von verschiedenen Künstlern, setzt Wilson hier die Technik bewusst und meisterhaft als Stilmittel ein, was der ohnehin erstklassigen Produktion die Krone aufsetzt.

    "Actual Brutal Facts" empfinde ich als äußerst gelungen, und meiner Meinung nach geht es eher in die Richtung von Massive Attack's "Risingson" als Linkin Park (?).
    Nach meinem persönlichen Geschmack könnte die Bandbreite der Drums, Percussion und Beats etwas großzügiger sein, wobei die minimalistische Gestaltung vermutlich gewollt ist.

    • Vor 5 Monaten

      Logischerweise kann ich nur Dinge bewerten, die mir vorliegen und die ich dazu auch noch nutzen kann. :) Da ich weder mit der Atmos-Version bemustert wurde, noch die Möglichkeit besitze diese zu nutzen, kann ich dazu auch nichts schreiben.