25. Februar 2015

"Ich finde soziale Netzwerke zum Kotzen"

Interview geführt von

Zwei Jahre nach "The Raven That Refused To Sing (And Other Stories)" bringt Porcupine Tree-Gründer Steven Wilson im Februar 2015 das nächste Album an den Start: "Hand. Cannot. Erase".

Die Welt, in der wir leben, ist von Tempo geprägt, oberflächlich und Gift für Menschen, denen kein fürsorgliches privates und berufliches Umfeld den Rücken stärkt. Wer tiefer gehende Kontakte scheut, wird aussortiert, gemieden und im schlimmsten Fall sogar komplett vergessen. Wie beispielsweise die Britin Joyce Vincent, die drei Jahre tot in ihrer Londoner Wohnung lag, bis sie jemand vermisste. Als die Geschichte über den nicht wahrgenommenen Tod der 38-jährigen Frau publik wurde, reagierte die halbe Welt beschämt. Wie konnte so etwas nur passieren? Der Dokumentarfilm "Dreams Of A Life" versuchte im Jahr 2011, Licht ins Dunkel zu bringen.

Auch Steven Wilson hat sich diesen Film angesehen. Danach fühlte sich der Musiker nicht nur bestätigt in seinem Gefühl, dass die Vereinsamung nicht einmal mehr vor den pulsierenden Metropolen Halt macht. Der Multiinstrumentalist und Projekt-Tausendsassa vertiefte sich in Joyce Vincents traurige Lebensgeschichte und begann, seine Gefühle darüber in einzelnen Songs festzuhalten. Das zusammengefasste Ergebnis dieses aufwühlenden Songwritingprozesses präsentiert sich dieser Tage in Form des Konzeptalbums "Hand. Cannot. Erase". Wir trafen Steven Wilson im Vorfeld in Berlin und sprachen über einsame Seelen.

Auf "Hand. Cannot. Erase" beschäftigst du dich intensiv mit dem Thema Vereinsamung. Inspiriert wurdest du dabei von dem Dokumentarfilm "Dreams Of A Life". Was hat dich an dieser traurigen Geschichte so fasziniert?

Steven: Als ich den Film das erste Mal sah, war ich zutiefst schockiert. Ich meine, wir leben mehr denn je in Zeiten, in denen jeder mit jedem auf irgendeine Art und Weise verbunden ist. Selbst das Privatleben der größten Promis liegt nur einen Mausklick entfernt. Und dann stirbt eine junge, attraktive Frau, und keiner bekommt es mit? Das kann doch nicht sein, oder? Das macht einfach nur fassungslos.

Mich hat diese Geschichte jedenfalls total mitgenommen. Ich habe danach wochenlang an nichts anderes denken können. Das zu verarbeiten, das hat mich wirklich viele schlaflose Nächte gekostet. Irgendwann wich die Schockstarre dann einem künstlerischen Verlangen. Ich begann mit den Arbeiten an einem Konzeptprojekt, das die Vereinsamung in Großstädten thematisiert. So hatte ich das Gefühl, das Thema nicht einfach nur wegzudrängen, sondern, auf mich bezogen, nachhaltig zu verarbeiten. Das war unheimlich wichtig für mich.

Wie erklärst du dir die erschütternden Tatsachen um den Tod von Joyce Vincent?

So etwas kann man nicht erklären. Ich denke, dass wir es hier mit einem gesellschaftlichen Problem zu tun haben, auch wenn der Fall Joyce Vincent sicherlich für sich steht. Die großen Metropolen dieser Welt locken die Menschen mit unzähligen Angeboten, Möglichkeiten und vermeintlichen Wegen in ein erfülltes Leben. Die Botschaft lautet: Wer nach London, Berlin oder New York zieht, der nimmt am wahren Leben teil. Hier pulsiert die Gesellschaft. Hier findet man Freunde und Bekannte. Und hier ist keiner lange allein. Das ist aber eine große Lüge.

Ich habe selbst über 20 Jahre lang in London gelebt. Ich kann dir sagen, dass ich mich in meinem Leben nie einsamer gefühlt habe. Ich kannte weder meine Nachbarn noch sonst irgendwen, der nicht in punkto Arbeit und Musik mit mir zu tun hatte. Hätte ich von heute auf morgen mit dem Musikmachen aufgehört, wäre ich allein gewesen. Und das in einer Achtmillionen-Metropole! Mittlerweile lebe ich auf dem Land, und weißt du was? Ich kenne meine Nachbarn, meinen Postboten, meinen Milchmann. Ich kenne sie alle, sogar beim Vornamen (lacht). Es mag Leute geben, die in der Stadt ihre Erfüllung finden. Die meisten machen sich da aber was vor. Es gibt in einer Großstadt kein Miteinander. Die Leute sind viel zu beschäftigt, um sich gegenseitig richtig wahrzunehmen.

"Die Angst hat mich angetrieben"

Beschäftigt womit?

Mit sich selbst, mit dem Druck zu funktionieren, mit sozialen Netzwerken – eben mit allem, das normalen Kommunikationsebenen im Wege steht.

Ein Stadtbewohner mit 500 Facebook-Freunden wandelt demnach auf falschen Fährten?

Absolut. Ein Bekannter hat mir neulich erst ganz stolz seine Facebook-Freundesliste präsentiert. So nach dem Motto: Hey, guck mal, ich habe mittlerweile über 800 Freunde auf meiner Seite. Ich habs drauf. Ich bin beliebt. Jeder mag mich. Aber das ist ein Trugschluss. Ich habe dann zusammen mit ihm seine letzten zwanzig Posts begutachtet. Die hatten im Schnitt ungefähr sieben oder acht Likes. Da frage ich mich doch: Was soll der Scheiß?

Wie kann man denken, 800 Freunde zu haben, wenn nur sieben oder acht davon an deinen Aktivitäten interessiert sind? Das ist doch Bullshit. Und sowas nennt sich dann auch noch soziales Netzwerk. Das ist aber das genaue Gegenteil: nämlich anti-sozial. Den Menschen wird von Facebook, Twitter und dem ganzen anderen Netzwerk-Müll etwas vorgegaukelt, das in Wahrheit nicht mehr ist, als eine bewusste Vortäuschung falscher Tatsachen. Keiner dieser angeblichen "Freunde" wird einen Suchaufruf starten, wenn du irgendwann von diesem Leben ins nächste wechselst.

Hast du Angst davor, ähnlich in Vergessenheit zu geraten wie Joyce Vincent?

Ja, irgendwie schon. Ich meine, ich habe zwar jemanden an meiner Seite und Tausende Menschen, mit denen ich schon zusammengearbeitet habe, aber das ist keine Garantie, wie das Schicksal von Joyce Vincent gezeigt hat. Diese Frau hatte auch eine Familie, stand voll im Leben, hatte Freunde und Bekannte. Und trotzdem lag sie drei Jahre tot in ihrer Wohnung. Da macht man sich schon seine Gedanken, ganz klar.

Inwieweit hat dich diese Angst während des Aufnahmeprozesses deines Albums begleitet? War sie eher Antrieb oder Hürde?

Beides, würde ich sagen. Musikalisch gesehen, hat mich die Angst definitiv angetrieben. Im Verbund mit der inhaltlichen Geschichte, die ein komplettes Leben einer Person abdeckt, entstand eine Art künstlerische Freiheit um mich herum, die es mir erstmals erlaubte, alles mit einzubeziehen, das ich bisher in meinem Leben als Musiker gemacht habe. Von Pop bis Elektro über Jazz, Prog und Ambient ist wirklich alles auf dem Album vertreten. Man könnte es fast schon als ein Greatest Hits-Album mit komplett neuen Songs bezeichnen, wenngleich es keine wirklichen Hits zu hören gibt, wie ich finde (lacht). Es geht dabei eher um den Gesamteindruck, verstehst du? Mir war es nicht wichtig, einzelne Songs besonders hervor zu heben, sei es nun in punkto Eingängigkeit oder Verspieltheit. Mir lag das Ganze am Herzen.

"Ich mime gerne den Kapitän"

Es gibt auch jede Menge Neues auf dem Album zu entdecken. Spontan fallen mir da ein Kinderchor und natürlich die Stimme von Ninet Tayeb ein. Wie kamst du auf Ninet?

Ich wollte unbedingt eine weibliche Stimme auf dem Album haben, die nicht nur punktuell ihre Spuren hinterlässt, sondern durchgehend präsent ist und dem Album und der inhaltlichen Geschichte ihren femininen Stempel aufdrückt. Auf Ninet kam ich über meinen Kollegen Aviv Geffen (Blackfield). Beide sind eng befreundet. So kam der Kontakt zustande.

Ich kann mich noch sehr gut an die ersten Demos erinnern, die wir mit Ninet aufgenommen haben. Die haben mich sofort umgehauen. Der Grund war: Ninet präsentierte mir etwas, mit dem ich nicht gerechnet habe. Das ist schwer zu erklären. Sie hat jedenfalls Schwingungen und Vibes in ihrer Stimme, die einzigartig sind und die perfekt in die Struktur des Albums hineinpassen.

Ebenfalls neu präsentiert sich das Artwork. Grelle Pinktöne gab es bei dir bisher noch nicht zu bestaunen. Zufall? Oder steckt da mehr dahinter?

Nun, wenn man die Geschichte des Albums nicht kennt, macht das Cover sicherlich erst einmal wenig Sinn. Da ist diese Fotografie eines Frauenkopfes, über den sich bunte Farben legen. Im Verbund mit dem Inhalt entsteht aber schnell ein Zusammenhang. Die Frau, um die es auf dem Album geht, ist von Beruf Malerin. Sie fotografiert sich gerne selbst und garniert die Bilder im Nachhinein noch zusätzlich mit Farben. Auf dem Coverfoto entsteht der Eindruck, als würde die pinke Farbe das eigentliche Kopfmotiv wegwischen. So spiegelt sich das Bild mit der inhaltlichen Geschichte, geprägt von Einsamkeit, Flucht und Isolation. Das passt irgendwie wunderbar, wie ich finde.

Die visuelle Komponente in deinem Schaffen war dir schon immer sehr wichtig. Woher kommt das?

Das gehört für mich einfach dazu. Ich bin nicht der Typ, der Songs schreibt, auf Tour geht und sich dann wieder hinsetzt und neue Songs schreibt. Ich brauche immer einen komplexen Zusammenhang. Sobald ich einen Song geschrieben habe, setze ich mich sofort mit der visuellen Umsetzung auseinander. Was kann ich mit dem Song ausdrücken? Welche Farben, Bilder und Geschichten kann ich mit einbinden? Dieser Prozess muss immer erst abgeschlossen werden, ehe ich einen neuen Song angehen kann. Woher das kommt? Keine Ahnung. So arbeite ich nun mal. Das ist meine Handschrift, die mich – hoffentlich – von anderen unterscheidet (lacht).

… und die deine Fans auch schon begeistert in die Hände klatschen lässt, wenn sie an die nächste Tour denken. Kannst du uns dahingehend schon was verraten?

Es wird groß, das kann ich schon mal versprechen (lacht). Wir werden noch intensiver an der Verbindung zwischen Musik und Optik arbeiten, so dass ein groß inszeniertes Ganzes entsteht. Wie das dann genau aussehen wird, kann und will ich aber noch nicht verraten. Ich hab' noch nicht überall den Deckel drauf. Das braucht noch etwas Zeit (lacht).

Ist dir Kontrolle wichtig?

Absolut. Ich bin zwar ein guter Teamplayer, aber am wohlsten fühle ich mich immer, wenn ich am Ende das letzte und entscheidende Häkchen setzen darf. Ich mime gerne den Kapitän, auch wenn man es mir nicht ansieht. Frontmänner und Bandchefs sehen ja eigentlich anders aus (lacht). Wer mich allerdings kennt, der weiß, dass ich tief in meinem Inneren ein nerdiger Noise-Bastard bin, der gerne die Richtung vorgibt und genau weiß, was er will.

So nerdig finde ich dich gar nicht.

Oh, ich stehe total auf japanischen Jazz, frickel' den ganzen Tag an kosmischen Sounds herum, finde soziale Netzwerke zum Kotzen und sehe aus wie ein in die Jahre gekommener Physik-Student. Ich bin ein Nerd, glaube mir (lacht).

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