laut.de-Kritik

Ein Superstar nach eigenen Regeln.

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In Tinashes Fanbase kursiert bereits seit ihrem Durchbruch mit der Hit-Single "2 On" die einheitliche Meinung, dass die Sängerin in einer gerechteren Welt ein Megastar sein sollte. Schließlich liefert sie auf dem Papier das ganze Paket: Die Choreos, das Songwriting, die Hooks, die Vibes, alles erstklassig. So sehr sie in Fankreisen jedoch vergöttert wird, so wenig gelingt es ihr im Anschluss an ihr Debüt, sich in der obersten Riege des R'n'B-Mainstreams zu etablieren. Über die Jahre scheint es allerdings auch so, als würde Tinashe immer mehr in diese Rolle der Außenseiterin hineinwachsen und zunehmend beginnen, darin aufzugehen.

2019 trennte sie sich nach einem zähen Disput um ihr mittlerweile verworfenes drittes Studioalbum "Nashe" von ihrem Label RCA. Seitdem legt sie mit jedem weiteren, independent veröffentlichten Release die eigene Messlatte ihres musikalischen Horizonts ein wenig höher. Schon "333" trumpfte als eines der abwechslungsreichsten und psychedelischsten R'n'b-Alben der jüngeren Vergangenheit auf, und das kryptisch betitelte "BB/ANG3L" macht genau da weiter, wo dieser Langspieler aufhörte.

Auf gerade mal sieben Songs spielt Tinashe im Schnelldurchlauf die gesamte Klaviatur ihres musikalischen Repertoires mit solcher Bravour, dass einem schwindelig wird. "Treason" fackelt nicht lange und heißt uns mit einem warmen Crescendo aus klirrenden Keys, hypnotischen Hand-Claps und einer innbrunstvollen vokalen Duftmarke Tinashes willkommen. Auf "Gravity" schwelgt sich dieselbe engelsgleiche Stimme an ein sachte rasselndes Garage-Instrumental, "Uh Huh" lockt mit polternden Trap-Drums und sinnlichem Falsettos ins Schlafzimmer, und auf "Tightrope" tänzelt Tinashe auf Zehenspitzen über ein straff gespanntes Drum'n'Bass-Drahtseil und schlägt mühelos vokale Saltos.

Selbst wenn sie wieder zu dem klassischen Pop-Sound zurückkehrt, der sie zum Star machen sollte, tut sie das mit neu gewonnenem Esprit. So schleichen sich auch in "Needs" kleine vokale Spielereien ein, wie der Pitch-Shift im Verse, der die Melodie der Hook wunderbar kontrastiert und dafür sorgt, dass sich der Ohrwurm erst so richtig festbeißt. So fest, dass nicht einmal der kalte Entzug viel hilft. Was Tinashe hier so mühelos aus dem Ärmel schüttelt, kommt einem auditiven Äquivalent zu Crack erschreckend nahe.

Das größte Highlight findet sich jedoch in "Talk To Me Nice", ein Upbeat R'n'B-Crooner, der nach dem ersten Drittel in einen sinnlichen, psychedelischen Slow-Burn kippt und Tinashe von dem Sonnendurchfluteten Loft in einen versmogten Nachtclub entführt. "I give you feelings that money can't buy / Couldn't be fake if I tried" säuselt sie, während sie sich langsam an der diamantbesetzten instrumentalen Stange dreht. Selbst eine FKA Twigs könnte es ihr nicht besser nachmachen.

Besonderen Dank muss man dafür auch ihrem Produzenten Machinedrum aussprechen. Nicht nur macht er mit der prägnanten Art, wie er die Drums auf diesem Album programmiert, seinem Namen alle Ehre, er lässt seine Kompositionen auch so klingen, als seien sie in Gold gegossen. Dafür, dass Tinashe nicht mehr das bodenlose Budget eines großen Labels zur Verfügung steht, wirkt ihre Musik nie hochwertiger. Die Drums klingen lebendig, das Vocal Mixing verleiht Tinashes ohnehin großartiger Stimme zusätzliche Gravitas, und die kleinen Fingerübungen, wie die Art, wie Machinedrum den Gänsehaut-Beat-Switch auf "Talk To Me Nice" einfädelt, gehören in ein Museum.

Das einzige Manko dieses Albums, das genauso gut auch eine EP sein könnte, liegt in seiner Länge. Gerade als man das Gefühl hat, dass "BB/ANG3L" so richtig in Fahrt kommt, ist es auch schon wieder vorbei. Es klingt nach Hauptgang, schmeckt aber nur nach einem Appetizer und lässt einen hungrig nach mehr im Regen stehen.

Man kann es jedoch auch positiv sehen: An diesem Album findet sich kein Gramm Fett. Es birgt eine hochdosierte Kostprobe an Tinashes handwerklichem Talent und veranschaulicht ihr artistisches Wachstum seit ihrem Schritt in die Unabhängigkeit so bildlich und eindringlich wie keines ihrer Projekte zuvor. Je weiter sich die Amerikanerin von der ursprünglichen Erwartungshaltung an ihre Person entfernt und umso mehr sie nach ihren eigenen Regeln spielt, desto mehr wirkt sie musikalisch mit sich selbst im Reinen. Es ist eine absolute Wonne, ihr dabei zuzuhören.

Trackliste

  1. 1. Treason
  2. 2. Talk To Me Nice
  3. 3. Needs
  4. 4. Uh Huh
  5. 5. Gravity
  6. 6. None Of My Business
  7. 7. Tightrope

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