laut.de-Kritik
Verschollene 78er-Aufnahmen vom Swing-Straßenstrich.
Review von Ulf KubankeWarum dieses halbe Texas-Konzert aus dem Jahr 1978 gleich in doppelter Hinsicht bemerkenswert ist? Zum einen war das Ton- und Bildmaterial lange Zeit verschollen. Zum anderen ist sie einziges offizielles Zeugnis der "Blue Valentines"-Tour. Tom Waits trägt hier die erste Phase seiner Künstlerkarriere zu Grabe.
Ein letztes Mal zelebriert er den kaputtjazzigen Crooner von der falschen Seite der Stadt, wo es mehr Blüten als Jungfrauen gibt und Käuflichkeit die Nächte regiert. Kurz darauf, so lehrt die Geschichte, wird er seine heutige Frau Kathleen kennenlernen, die ihn von Rastlosigkeit und Alkoholismus kuriert, und künstlerische Türen zum Brecht/Weill-Universum öffnen.
Gleich in den ersten Sekunden dieser DVD kreischen den Hörer die verzweifeltsten, unglückseligsten Trompeten an, die dieser Standard je gesehen hat. Die Zeile "Your Mama's good looking" ist selbst im Licht einer schummrigen Straßenlaterne eine unter zentimetertiefem Make-Up verborgene Lüge. Dazu spinnt Tom seine gesprochene "Burma Shave" Story ein. Mit 11 Minuten tosendem Beifall klingt diese verlorene Romanze voller platzender Träume aus.
Das Trigespann "Annie's Back In Town/I Wish I Was In New Orleans/Ain't Gonna Rain" ist typischer Waits-Balladenstil. Nach der trunken-schleppenden Hommage an die Geburtsstätte des Jazz nimmt uns "A Sweet Little Bullet From A Pretty Blue Gun" auf Tour durch die regennassen Alleys der kleinen Gauner, die am Ende doch ihre Waffen vor den angebeteten Tänzerinnen und Bordsteinschwalben strecken. Der unaufhörlich suchende Fußmarsch wird hervorragend vom taktgebenden Saxophon und einer trockenen Swingguitar verkörpert, bis der Antiheld der Story am Ziel seiner feuchten Träume ist.
Die Ballade "On The Nickel" widmet Waits allen Obdachlosen und Gestrandeten dieser Welt. Voller Mitgefühl intoniert der Meister zu einem zarten Pianospiel: "Sticks and stones will break my bones, but i always will be true / And when your mama is dead and gone, I'll sing this lullaby just for you." Diese vielleicht anrührendste Waits-Ballade überhaupt legte den Grundstein für Toms eigene Stiftung, die heute weltweit Heimatlosen hilft.
Hardboiled geht es weiter. "Romeo Is Bleeding" skizziert in bester James Ellroy-Tradition einen Polizistenmord sowie die zwischen Angst und Prahlerei aufgescheuchten Streetgangs der Swingära. Der Track klingt wie eine raubmordende Zuhälterversion eines Django Reinhardt-Gigs. Wie ein gehetzter waidwunder Wolf stolpert der Sänger durch diese Nummer, bis seine Band ihn am Ende stellt.
Für das nachfolgende Thema von "Silent Night/Christmas Card From A Hooker In Minneapolis" erntete Sturkopf Waits übrigens schon seinerzeit viel Widerspruch: Es gab zahlreiche Beschwerden und Diffamierungsversuche seitens religiös-konservativer Organisationen. Das Schlussgespann "Change/Spender/Charge" bekommt schließlich durch einen auf Stimme und Bebop-Saxofon reduzierten Vortrag eine ganz andere Klangfarbe.
Und dann ist nach einer knappen Stunde urplötzlich Schluss. Gebannt von diesem Publikumsdompteur, der zwischendrin immer wieder spontane Pointen streut und ironische Seitenhiebe platziert, befindet sich der Hörer wieder im Jahr 2009. Wer noch nicht erwachen mag, spielt diese Halbweltperle einfach noch einmal und noch einmal und noch einmal ...
5 Kommentare
hier noichmal der director's cut des letzten drittels:
Silent Night/Christmas Card From A Hooker In Minneapolis" zeigt dem Publikum, dass auch Nutten zuweilen Weihnachten feiern und vom geordneten Leben der Spießbürger träumen. Die kleine Grußkarte startet hoffnungsvoll und beschönigend, weicht aber immer mehr der trostlosen Realität. Das erneute Einblenden des X-mas-Songs zum Ausklang entlarvt den ersehnten American Dream dann als hoffnungslose Illusion. Eben dieser Bezug zu Gestalten des Rotlichtmilieus brachte Waits nicht nur Freunde. Es gab zahlreiche Beschwerden und Diffarmierungsversuche seitens der religiös-konservativen Organisationen Amerikas. Den streitbaren Sturkopf konnte dies jedoch nicht von der Performance abhalten.
Den letzten Song "Small Change/Hey, Big Spender/Small Change" trägt grantelnde Kalifornier erstmalig semi-acapella zu einem Bebop-end improvisierten Saxophon vor. Damit bekommt das Lied eine vollkommen neue Klangfarbe und entwickelt sich deutlich intensiver als die Studiofassung. Ein Höhepunkt jeder Show. So vergänglich wie der flüchtige Moment des Jazzakkords liegt der Songheld in seinem Blute tot auf der Strasse. In der eingebauten Passage des "Big Spender Standards" enthüllt sich sein Geheimnis rückblendenartig. Von einer Strassenhure angesprochen. hätte "Small Change" die Dame mit mehr Respekt behandeln sollen, um die Nacht zu überleben.
Mensch Anwalt, Schimpf und Schande über mich, dass ich diese saugeile DVD und deine treffende Rezi nicht mal wieder hochgeholt bzw. überhaupt kommentiert habe. Man kommt im Moment aber auch zu gar nix.
Small Change/Hey, Big Spender/Small Charge
Das ist definitiv das Highlight und thront ganz am Ende, wo es auch hingehört. Fantastisch!
Tragikomödie formvollendet!
ja, eigentlich unfassbar, dass tom da erst 29 jahre alt war.
was soll man sagen?
Alle Grundsatzdebatten müssen sich hier messen und dan dann, ja dann können wir gern streiten!
ouch ich wäre gern nüchtern gewesen!
Aber Tom war es auch nicht.
Es ist zu geil!
Ich feier es gerade!
Was für eine Performance!