laut.de-Kritik
Der Charmeur hat sein Heimspiel-Feld der Liebe schon besser beackert.
Review von Stefan JohannesbergSelbst ein unverwüstliches Urgestein wie Rolling Stones-Frontmann Mick Jagger sieht gegen den Österreicher Jürgen Bockelmann alias Udo Jürgens trotz emsiger Bühnenpräsenz eher wie ein hüftlahmer Altrocker aus. Der bekannteste deutschsprachige Sänger geht immerhin schon stramm auf die Siebzig zu, dem musikalisch-künstlerischen Altersheim, in dem Harald Juhnke mit Roland Kaiser jeden Abend die alten Omis anbaggert, entkommt der Entertainer aber. Große Tourneen und Platten im Ein-Jahreszyklus sprechen für sich. Udos Kreativität sind anscheinend keine Grenzen gesetzt, doch das Sprichwort "Je älter der (griechische) Wein desto besser" gilt für ihn deswegen noch lange nicht.
Ein Jürgens muss sich an den Ergüssen früherer Tage messen lassen, auch wenn die Arbeit an seinem neuesten Album nach eigenen Aussagen "wie eine Frischzellenkur" wirkte. Und im direkten Vergleich mit dem Gros seiner Werke zieht "Es lebe das Laster" leider den Kürzeren. Zwar werkelte der charmante Chansonier wieder mit altbekannten Gesichtern zusammen und benutzt altbewährte Arrangements, doch der zündende Funke will einfach nicht überspringen. Klar dürften auch die neuen Stücke jedem Udo-Fan gefallen, aber jenen Udo-Fans müsste eigentlich ebenfalls auffallen, dass viele Lieder in besserer (Musik-)Form schon im hauseigenen Jürgens-Plattenschrein zu finden sind.
Nehmen wir zum Beispiel den Titelsong: Textlich durch seine zweideutige Kritik an der Überfluss- und Spaßgesellschaft über jeden Zweifel erhaben, lässt Udo hier wie im "Café Größenwahn" den Rocker raushängen. Eine Angewohnheit, die ihm bereits vor zehn Jahren nicht gut zu Gesichte stand. In eine ähnlich-peinliche Soundkerbe schlagen noch das "Weichei", das mich fatal an den "Silberstreifen"-Tiefpunkt "Schnucki Putzi" erinnert, sowie die "Schönen Grüße aus der Hölle", die von der gesamten Struktur her stark nach "Narrenschiff" und "Festivalfieber" klingen. Selbst die Lyrics wiederholen nur altbekannte Positionen der zwei letztgenannten Songs. Nicht zu erwähnen bräuchte man, dass die Texte natürlich immer noch deutlich aus dem Schlager-Einheitsbrei hervorragen.
Zum Glück dominiert ein weiteres Thema diese Scheibe, in dem Udo Jürgens wie kein zweiter zu Hause ist: der Moment der Liebe, das Glück des Augenblicks. Niemand verfügt wohl über ein so umfangreiches Wissen in diesem Metier wie Udo. Zu allem Überfluss besitzt der Frauenschwarm ja noch die Fähigkeit, seine reichhaltigen Gefühle musikalisch und lyrisch tiefsinnig umzusetzen. Die Form der balladesken Hymne passt da seit Jahrzehnten am besten. Seine Stärken nehmen anscheinend immer noch proportional zu, je mehr er das Tempo drosselt. Sobald Udo Jürgens am Piano Platz genommen hat, erblüht die Landschaft des Herzens im ganzen neuen Licht. Man fühlt jedes Wort, wenn er in "Engel am Morgen" und "Flug LH 804" liebevoll von seinen Affären spricht und dabei bis zum Kern seiner eigenen Seele vorstößt.
Doch abgesehen von den beiden Songs hat Udo Jürgens selbst sein Heimspiel-Feld der Liebe schon besser beackert. Bei "Solang' mich deine Liebe trägt", "Alle Macht den Gefühlen" und "Wenn nicht wir, wer dann" fehlt irgendwie der nötige Kick an Leidenschaft, den frühere Balladen wie "Okay", "Gib mir deine Angst" oder "Einmal wenn du gehst" auszeichneten. Die Lieder bleiben höchstens "hautnah", gehen aber niemals "unter die Haut". Auch die obligatorische orchestrale Hymne "Die Leichtigkeit des Seins" kann das Album nicht mehr vor dem Mittelmaß retten. Ein Udo Jürgens-Mittelmaß natürlich, das 99 Prozent aller Künstler selbst mit siebzig nicht erreichen werden.
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