laut.de-Kritik
Kunterbunte Collage mit künftigen Klassikern.
Review von Philipp KauseEs braucht knapp 90 Sekunden, bis Vampire Weekend richtig loslegen und das erste entschlossene Rock-Riff krachen lassen. Auf dem NYC-Themenalbum "Only God Was Above Us" wirkt lyrisch wie musikalisch alles verschlüsselt und mehrfach verpackt. Beim Hören lässt sich man sich also entweder auf hermetisch verriegelten Artpop ein oder fieselt die Clous, die in den Songs schlummern, in geduldiger Wiederholung aus ihren Verschalungen heraus. So lassen sie sich auspacken wie mehrschichtig mit Schleifen, Bändchen, Glitzerpapier, Styropor und Dämmmaterial umhüllte Geschenke - im detektivischen Auspacken steckt der Reiz.
Zehn Tracks entstanden in den letzten fünf Jahren. Vampire Weekend haben eine abgefahrene Inspiration zu ihrem Werk aus der jüngeren Geschichte des Big Apple gezogen. In diesem Hintergrund, die Stadt (in einer Ära vor dem 11.9.2001) darzustellen, liegt die Ursache für den verschachtelten Charakter aller Stücke. Wie auch immer die New Yorker dann genau die Kurve zum finalen Album bekommen haben - da lassen sich die Assoziationen kaum transparent erkennen und die Zwischenschritte dem fertigen Longplayer nicht anmerken. Er ist ein schwer durchdringbarer Brocken von der Schönheit eines missionarisch gedachten Werks: Es will viel in den Hörer:innen auslösen, unbändig viel mitteilen, steckt voller liebenswerter Details.
Jedenfalls verhalten sich die Texte, ganz anders als auf dem Vorgänger "Father Of The Bride", eher kryptisch, fragmentarisch, abgerissen. Sie verlangen danach, dass man wüsste, was ihre Aufhänger waren. Den Satz "Have a clue / with times / it becomes classical", aus dem Song "Classical", darf man getrost wörtlich nehmen. Es bräuchte einen Hinweis, einen Clou, und mit der Zeit würde es dann zum Klassiker werden. Manche Zeilen hämmert uns Ezra Koenig wie ein Mantra ein, zum Beispiel "it's just something people say" im Lied "Prep-School Gangsters".
Auch musikgestalterisch herrscht ein Kontrast zum luftigen Vorgänger mit seinen süßen kleinen kurzen Stücken. Die neuen zeichnen sich mehr durch Bombast-Phasen und längere Spannungsbögen aus. Ästhetisch herrscht bei der zum Trio geschrumpften Band an Klangdichte und interessanten Verläufen keinerlei Mangel. Bei der Opulenz der Klangfarben und -mittel lässt sich von Barock-Pop sprechen.
Der Track "Classical" zeugt davon, dass die Band den Freejazz Chicagos aus den späten 60ern die Band gehört, unterbewusst mit ihm geliebäugelt haben mag. Sie inkorporiert entsprechende Rhythmus-Brüche. Außerdem arbeiten die Vampire mit einem Streicherensemble.
Hinzu kommen, scheinbar ohne Rücksicht auf Kosten, Aufwand oder Pop-Tauglichkeit, breit eingesetzt Bläser, Orgel, Verstärker. Die Gruppe wildert in den Koordinatensystemen von Klassik, Jazz, Fusion ("Connect"), Trip Hop/Downbeat ("The Surfer", "Mary Boone"), Songwriter-Liedstrukturen, Easy Listening und Rock völlig flexibel. Immer wieder, so im Opener, herrscht Rummelplatz-Feeling: So, als würde man im Kreis sausen, Achterbahn fahren etcetera.
Wenn man 'denkt', man habe die Songs intus und 'verstanden', oder sie seien zuende, biegen sie um die Kurve, schlagen einen neuen Haken. So geschieht es in "Prep-School Gangsters", wo der Sound sich allmählich der Mbira-Rhythmik des südafrikanischen Lands Simbabwe verschreibt, die dort mit Daumenklavier ausgelebt wird. Zum Schluss, von Minute 3'24"-3'43", schaltet sich ein Bratschen- und Cello-Stakkato ein, bevor ein einzelner abgerissener Kirchenorgel-Ton der spannenden Komposition den i-Tupfer aufsetzt. Bis dahin läuft das unsterblich schöne Stück als das geradlinigste der Scheibe.
Das acht-minütige "Hope" dürfte in seiner niedlichen Verspieltheit ein Highlight für Fans des Bombay Bicycle Club sein. Meint man, das Lied sei vorbei, mündet es ab Minute vier in einen edlen Bläsersatz und zur Harmonieführung gegenläufigen C-Teil. Ausgedehnte Instrumental- und Noise-Sequencer-Parts dehnen das Stück. Zum Glück wiederholt sich später der coole Bläser-Abschnitt, ein weiteres Highlight des Albums.
Vampire Weekend liefern wieder ein Lehrstück in Eklektizismus. Industrial-Momente im Opener "Ice Cream Piano", weiche Benny Sings-Soul-Momente in "Connect", wippende, groovende Streichersequenzen in "Capricorn", die Owen Pallett nahe stehen, all das tragen Ezra und seine beiden Mitstreiter zu einer kunterbunten Collage zusammen. Romantik des 19. Jahrhunderts trifft auf einen Touch schwermütigen Folk und super-eingängige Beach Boys-Sonnigkeit. "Capricorn" ist zugleich eine Keyboards-Schlagzeug-Ballade mit einem glibberig klingenden instrumentalen Mittelteil und Akustikgitarre-Outro. Das Video spielt auch auf die perspektivlosen Seiten der mitunter verwahrlosten Touri- und Wallstreet-Metropole an. Den uniquen Trademark-Sound der Band beizubehalten, scheint erst mal folgerichtig, ihn mit neuen Schlenkern komplexer anzureichern geht ebenfalls in Ordnung.
6 Kommentare mit 8 Antworten
Finde es richtig groß!
Mein bisheriges Album des Jahres und perfekt zum Fühlingsanfang.
Natürlich fehlt mir bei vielen Texten der Kontext, aber auch so sind wunderschöne Zeilen und Stimmungen drauf.
Father of the Bride hatte die noch direkteren Hits, dafür war ein Drittel der Tracklist Skipmaterial. Das hier klingt wie aus einem Guss.
+1
How the cruel / with time / becomes classical...
Du musst es wissen, Altestvordererst.
Dieser Kommentar wurde vor 7 Monaten durch den Autor entfernt.
Ist das so Alt-J für Hipster?
Alt-J ist Alt-J für Hipster.
Ich dachte immer Alt-J wären Mumford and Sons für Hipster.
Nee Mumford & Sons für Hipster sind Local Natives.
Witzigerweise sind Alt-J wirklich die erste Band, an die ich beim Begriff Hipster denken muss, vmtl weil einem beides vor allem Anfang der 10er gehäuft (zusammen) begegnet ist. Vampire Weekend waren mit ihrem Ruf als whitest band alive dafür doch eigentlich schon immer viel zu uncool.
Exakt. Alt-J wird von der breiten Masse gehört und im Format-Radio durchgenudelt. Vampire Weekend hingegen ist was für die Alt-J-Fans denen eine solche Mainstream-Band zu peinlich …
Das ist wirklich ein wahnsinnig gutes Album. Lustig, ich hab den Rummelplatz-Vergleich auch gehört: https://youtu.be/9CZVfQnaB6s?si=vjGn7s37vG…
Oder du hast die Rezi vorher gelesen und ihn dann plagiiert?
Habs die Tage wirklich sehr, sehr oft gehört und mags entsprechend gerne. Tolle Melodien nach wie vor, tatsächlich in der Instrumentierung wieder ein bisschen verspielter als der Vorgänger (wobei ich es immer noch viel schlichter und hübscher finde, als es eine Bezeichnung wie "Bombast" suggeriert), das große Weltmusik-Element der frühen Alben scheint mir aber auch diesmal weitgehend aussen vor geblieben zu sein (Prep-School-Gangsters - mindestens ein, vll sogar DAS Highlight der Scheibe - mag wie in der Rezi beschrieben mit Einflüssen aus Simbabwe die Ausnahme sein, das kann ich ehrlich gesagt aber nicht beurteilen) und im Ergebnis trotz oder anteilig vll sogar wegen der nicht eindeutig lesbaren Texte mMn ein Album, das total niedrigschwellig eine Menge Spaß macht.
Ironischerweise halte ich es zwar für eines der schwächeren der Band, aber das soll ausdrücklich nur Lob für den übrigen Katalog sein und diesem tollen Stück Musik hier nix wegnehmen