laut.de-Kritik
Das erste und einflussreichste Mixtape der Musikgeschichte.
Review von Giuliano BenassiEs ist noch gar nicht so lange her, dass die Zusammenstellung eines Mixtapes eine Herausforderung darstellte. Einerseits zeitlich, denn die Stücke mussten einzeln und in realer Länge von LP/CD auf Kassette übertragen werden. Vor allem aber inhaltlich, musste man die Stücke doch erstmal vorliegen haben. Was die eigene Plattensammlung nicht hergab, musste bei Freunden, Bekannten, in Läden oder per Post besorgt werden. Es konnten Monate, gar Jahre ins Land gehen, bis man endlich die eine seltene Single mit der obskuren Cover-Version in den verschwitzten Händen hielt, von der man in einem Artikel mal gelesen hatte.
Ein Ur-Mixtape der ganz besonderen Art stellte zu Beginn der 1950er Jahre Harry Smith zusammen. Während des Zweiten Weltkriegs hatte er Tausende Schellack-Platten gekauft. Zu Ramschpreisen, da die Lager für Kriegsmaterial gebraucht wurden und die Nachfrage in Krisenzeiten eher gering war. Dabei konzentrierte sich Smith auf Musik aus dem Süden der USA, Folk, Blues, Jazz, Country, Cajun, Gospel. Oft waren es Platten, die einen sehr begrenzten Umlauf hatten und nur in wenigen Tausend Exemplaren gepresst worden waren. Rarities, würde man heute sagen. Müll aus damaliger Sicht.
Smith war kein typischer Sammlernerd. 1923 in eine esoterisch angehauchten Künstlerfamilie geboren, lebte er eine Zeit lang beim Indianerstamm der Lummi, um deren Lebensweise kennenzulernen. Seine Leidenschaft für die Musik entdeckte er, nachdem er 1940 eine obskure Blues-Platte erstanden hatte. Er war so begeistert von der scheinbar archaischen, doch so nahen Welt, die sich hinter ihr verbarg, dass er sich auf der Suche nach weiteren Schätzen machte.
1950 zog er mit seiner Sammlung von Kalifornien nach New York. Aus Geldmangel versuchte er, seine Platten zu verkaufen und wandte sich an Moe Asch, dem das einschlägige Label Folkway Records gehörte. Das Ergebnis des Treffens war ein Auftrag: Statt sie zu verscherbeln, sollte Smith aus den Platten die interessantesten Lieder heraussuchen.
Smith stellte eine Liste mit 84 Stücken für drei Doppel-LPs zusammen, geordnet nach Themen "Ballads", "Social Music" und "Songs". Mit den Platten hatte er auch die Hintergrundinformationen zu Künstlern und Liedern erstanden, die die Labels an die Geschäfte auslieferten. Daraus gestaltete Smith ein umfangreiches wie eigenwilliges Booklet, eine Mischung aus sachlicher Bibliographie und künstlerischer Collage.
So gab es zu jedem Stück Informationen über Künstler, Label, Aufnahmeort und –datum, eine kurze Geschichte des Songs und, für "Ballads", eine inhaltliche Zusammenfassung in Form einer reißerischen Tabloid-Überschrift. "Vater findet die Leiche seiner Tochter mit einer Botschaft, nachdem ein Junge sie misshandelt hatte", schrieb er etwa zu "The Butcher's Boy". Das Büchlein verzierte er mit schematischen Abbildungen verschiedener Künstler, Instrumenten und Noten. Zum Schluss folgten eingerahmt vier Zitate von Künstlern, die ihn zum Booklet inspiriert hatten, darunter Rudolf Steiner und Aleister Crowley mit seinem Klassiker "Do what thou wilt shall be the whole of the law".
Auf den Covern war die Abbildung eines himmlischen Monochords zu sehen, die bereits ein Werk des okkulten Philosophen Robert Fludd aus dem 17. Jahrhundert zierte. Sie unterschieden sich durch die Farben blau, rot und grün, die wiederum für die Grundelemente Luft, Feuer und Wasser standen.
Fast schon subversives Material also, in einer Zeit, in der die Welt in den Kalten Krieg rutschte und Esoterik, linkes Gedankengut oder Kritik christlicher Grundsätze als antipatriotisch abgestempelt wurden. Eigentlich ein gefundenes Fressen für den fanatischen Senator Joseph McCarthy, der überall Sympathien für die Sowjetunion 'entdeckte' und viele Künstler an den Pranger stellte. Smith war allerdings so unbekannt, dass er unbehelligt blieb.
Labelbetreiber Moe Asch war ebenfalls ein Unikat. 1940 hatte er in New York das Label Asch Records gegründet, das neben jiddischer Musik auch Folk, Jazz und Blues im Programm hatte. Auch das subversiv in einer Zeit, in der noch die Rassentrennung galt und es wenige Überschneidungen gab. "White man had the Schmaltz, black man had the Blues" stellte Bon Scott Jahre später treffend fest.
Asch Records ging 1948 pleite, kurz danach gründete Asch den Nachfolger Folkway Records. Seine Neugierde und Förderungsdrang zeigten sich daran, dass er alsbald außer US-Musik jeglicher Richtung auch Musik aus Aserbaidschan, Korea oder Pakistan nebst Lesungen aus der indischen Bhagavad Gita (selbstredend auf Sanskrit) oder der James Joyce Society im Programm hatte. Und dass keines der Alben, das er herausbrachte, jemals aus dem Programm genommen werden sollte. Das Label sollte aus seiner Sicht Musik aus dem Volk, Texte, Anleitungen und Klänge aus der ganzen Welt dokumentieren.
Zwei Idealisten, die sich nicht gesucht, aber gefunden hatten. Um die Compilation handlich umzusetzen, kam ihnen eine technische Neuerung zu Hilfe: Das synthetisch hergestellte Vinyl ersetzte rasch Schellack, das in Indien und Thailand aus den Ausscheidungen der Lackschildlaus gewonnen wurde. Nicht nur ein wirtschaftlicher Vorteil, sondern auch ein technischer, denn auf Vinyl konnte man wesentlich mehr Stücke unterbringen, und das in höherer Qualität.
1952 erschien die "Anthology Of American Folk Music" zunächst auf drei separaten Doppel-LPs plus Smiths Booklet, später auch als schön verpacktes Gesamtpaket. "Die Aufnahmen entstanden zwischen 1927, als elektronische Aufnahmegeräte eine hochwertige Musikaufnahme erst möglich machten, und 1932, als die Große Depression die Verkäufe von Folk-Musik zum Stillstand brachte. In diesen fünf Jahren wies amerikanische Musik noch regionale Eigenschaften auf, die später durch Plattenspieler, Radio und Fernsehen [im Original 'Talking Picture'] eher verschmolzen", erklärte Smith im Booklet.
Für die vielen kleinen Folk-Gemeinschaften in den USA, unter anderen der New Yorker um Pete Seeger und Woody Guthrie, war die "Anthology" eine wahre Schatztruhe. Viele der Stücke kannten sie schon, weil irgendjemand sie gespielt hatte oder sie in einer der zahlreichen Notensammlungen vertreten waren, doch hier waren sie in der Interpretation oft unbekannter Musiker aus anderen Teilen des Landes zu hören. Menschen, die nicht lediglich vom Blatt ablasen, sondern die Stücke mit Überzeugung vortrugen. Eine andere Welt.
Klar, die Qualität der Aufnahmen ist nicht mit heutigen Maßstäben zu messen. Mastertapes gab es nicht, Folkway Records musste die Stücke von den alten Schellack-Platten übernehmen, die schrill und gleichzeitig dumpf klangen. Dafür atmen sie mit jeder Pore das aus, was gute Aufnahmen ausmacht: Authentizität.
Schnulzen sucht man vergeblich. Den Titel des ersten Doppel-Albums, "Ballads", könnte man ohne weiteres mit "Murder" ergänzen. Was Nick Cave tat und prompt das erste Stück der "Anthology", "Henry Lee", für das wohl blutigste Album aller Zeiten verwendete ("Murder Ballads", eben). 1996 sang er es schmachtend im Duett mit PJ Harvey, hier (bzw. 1932) trägt es Dick Justice mit sachlicher Stimme zu einer schnarrend gezupften Gitarre vor. Ein weiteres Stück, "Stackalee", inspirierte Cave zu "Stagger Lee".
Vom Tod geht eine morbide Faszination aus. Bevor sich das bewegte Bild verbreitete und das Thema übernahm, musste sich das Publikum mit dem realen Leben, gruseligen Jahrmarkt-Darstellungen und Liedern begnügen. Die in diesem Fall oft Kinderlieder aus Großbritannien und Irland waren. Neben Morden erfährt man hier auch von Hinrichtungen, Suiziden und tödlichen Unfällen unterschiedlicher Art. Und wie schwer das Leben auf dem Land war. Denn die Große Depression betraf nicht nur Millionen, die ihre Arbeit verloren, sondern auch viele kleine Farmer, die gegen die Industrialisierung der Landwirtschaft und der zunehmenden Ertragsarmut der Böden keine Chance hatten. Da griff man eben zur Waffe oder verhungerte. Oder griff zur Waffe, bevor man verhungerte.
Doch gab es auch gesellige Momente. Volume 2 "Social Music" bietet Stücke, die bei Festen oder religiösen Veranstaltungen gespielt wurden. Hier wird gefiddelt, Banjo gezupft, Walzer getanzt, gestompt, gebetet, oft auch ohne Worte. Hier geht es deutlich fröhlicher und besinnlicher zu als auf "Ballads".
Als beliebtester Teil der "Anthology" entwickelte sich jedoch der dritte mit dem schlichten Titel "Songs". Hier geht es um Überlegungen, Probleme, schöne Momente aus dem täglichen Leben. Hier macht sich Blind Lemon Jefferson Gedanken über den Tod ("See That My Grave Is Kept Clean") und berichtet aus dem Knast ("Prison Cell Blues"), liefert Ramblin' Thomas einen Ur-Blues ab ("Poor Boy Blues"), während Uncle Dave Macon seine gute Laune auch dann nicht verliert, wenn er schuften muss ("Way Down The Plank Road", "The Lone Star Trail").
Viele der Künstler waren damals unbekannt und blieben es, andere standen aus der Versenkung auf und belebten ihre Karriere wieder. Manche zogen nach New York, um von den aufstrebenden jungen Folk-Aficionados des Greenwich Village umgarnt und verehrt zu werden.
Smith hatte noch weitere drei Teile der "Anthology" geplant, in denen es um die Entwicklung des Rhythmus zwischen 1890 und 1950 gehen sollte, wie er im Booklet schrieb. Doch daraus wurde nichts. Bis zu seinem Tod 1992 verdingte er sich als experimenteller Filmemacher, Produzent und schräger Vogel, stets ein weiteres Projekt verwirklichend und stets pleite. Ein gnädiges Opfer war, neben Moe Asch, Allen Ginsberg. "Ich musste mit ihm rauchen, bis ich total high war. Dann fragte er mich nach Geld, weil er stets am Verhungern war. Anscheinend machte er das mit jedem so", erinnert sich der Beat-Poet, der ihn finanziell unterstützte und ihm gelegentlich auch Unterschlupf bot.
Schließlich verkaufte Smith seine Plattensammlung doch, zur Hälfte an Asch und zur Hälfte an die New York Public Library. Die Hintergrundinformationen gingen dabei verloren, es blieben nur noch die Tracklists der geplanten Fortsetzung. Problematisch blieb auch der rechtliche Aspekt, denn weder Smith noch Asch besaßen die Rechte an den Aufnahmen, was die "Anthology" zu einem Bootleg macht. Im Jahr 2000 erschien posthum ein Volume 4 mit dem Titel "Labor Songs", deren Booklet aber nicht von Smith stammt.
Immerhin erhielt er 1991 einen Grammy für seine Verdienste in Sachen Folk. "Er erschien in einem Frack ohne Schlips und stolperte auf dem Weg zur Bühne. Er hielt eine wunderschöne kurze Rede, in der er sich freute, dass die Folk-Musik schließlich doch einen Einfluss auf die politische Kultur der USA gehabt hatte. Er wollte damit sagen, dass sich die Gedankenwelt der Obdachlosen, Schwarzen, Minderheiten und der Armen – zu denen er auch gehörte, denn er war wieder am Verhungern – das Bewusstsein Amerikas so verändert hatte, dass sie auch die Politik beeinflusst hatte", so Ginsberg.
Der Katalog von Folkway Records umfasst 2.168 Alben. Kurz nach Ashs Tod 1986 kaufte das Smithsonian Institute den Katalog auf und verpflichtete sich, alle Alben weiterhin verfügbar zu machen. Weitgehend in Form von Soundfiles, die auf der Website erstanden werden können. 1997 veröffentlichte sie zudem die "Anthology" in CD-Form, begleitet von einem Faksimile des Original-Booklets und einem Band mit Essays und detaillierten Erläuterungen zur Entstehung der einzelnen Stücke und des Gesamtwerks. Dass das Programm zur Ansicht des Multimedia-Materials auf der letzten CD nur mit Betriebssystemen bis Windows 98 zu öffnen ist, passt irgendwie zur Sammlung. Klickt man sich durch die Ordnerstruktur, findet man jedoch einzelne abspielbare Videos. Harry Smith sieht mit Vollbart und Hornbrille erstaunlich hip aus.
Der Einfluss der "Anthology" auf die damalige Generation ist immens. Stellvertretend die Meinung von einem, der es wissen musste: "Sie war unsere Bibel. Wir kannte alle Stücke auswendig. Selbst die, die wir hassten", erklärte Dave Van Ronk, der Mayor of MacDougal Street, eine der schillerndsten Musiker des New Yorker Greenwich Village der 1960er Jahre, aus dem Bob Dylan als bekanntester Vertreter hervortrat. Die Zahl der Coverversionen bekannter und weniger bekannter Künstler geht ins Unendliche, noch heute ist sie eine wahre Schatztruhe für Folkmusiker und -interessierte.
Die "Anthology" war im Prinzip das erste Mixtape der Musikgeschichte. Auch in der heutigen Zeit, in der man mit einer Kreditkarte und wenigen Klicks ein digitales Mixtape zusammenstellen kann, das lange genug ist, um einmal mit dem Fahrrad um die Welt zu strampeln, bleibt sie ein einzigartiges Werk. Nicht das Produkt eines Algorithmus, sondern eines von begeisterten, verschwitzten Händen.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
3 Kommentare
Schöne Review, werde mal versuchen mich durchzukämpfen
Endlich ein Meilenstein für Various Artists, wurde auch Zeit. Mein Lieblingsalbum bleibt aber weiterhin die "Bravo - The Hits '98".
Im Gegensatz zu jeder DSDS-Eintagsfliege, Liont und wie die ganze Scheiße heißt, haben die Various Artists hier nicht mal ein Portrait. Armes Deutschland.