laut.de-Biographie
Vaya Con Dios
Bei Vaya Con Dios von einer Band zu sprechen, übertreibt ein bisschen. Denn den "Club der 27" (Janis Joplin, Jimi Hendrix, Kurt Cobain, Hole-Bassistin Kristen Pfaff, Amy Winehouse) überlebt Bandgründer Dirk Schoufs nur knapp. Obwohl sein Kontrabass eines der Markenzeichen der belgischen Combo ist, tritt er auf dem Peak des Erfolgs im Alter von 29 Jahren mit einer Drogen-Überdosis ab. Es ist der 24. Mai 1991, der Frühling nach zwei Sommerhits im Jahr davor: "Nah Neh Nah", heute inzwischen bekannter im Deephouse-Remix von Milk & Sugar mit einer Spur Electro-Swing, und "What's A Woman?" Beide Nummern stammen von der CD "Night Owls". Ein Genre für diese Platte zu finden ist nahezu genauso unmöglich wie bei Alben von Paolo Conte: 'Mischmasch' trifft's am besten.
Front-Lady Danielle 'Dani' Klein, sieht darin gar keine Absicht, sondern natürlichen Flow: "Ich denke, das liegt daran, dass ich in Brüssel lebe", erklärt die Songwriterin, die an Silvester stets in ihren Geburtstag rein feiert, dem finnischen Sender MTV3. "Wir haben nicht sowas wie typisch belgische Musik, würde ich sagen. Wir befinden uns quasi am Kreuzungspunkt verschiedener Kulturen. Denn wir sprechen zwei Sprachen. Die eine hat germanischen, die andere lateinischen Ursprung. Da strömen gemischte Einflüsse zusammen. Damit will ich nicht sagen, dass wir keine Identität haben. Aber: Es ist nicht so wie der Flamenco für Spanien steht oder der Fado für Portugal, sowas gibt's in Belgien nicht. Wir nehmen immer ausschnitthaft Sachen von überall her."
"Nah Neh Nah" rotiert als 'Gypsy'-Pop-Hit durch Europas Äther und ist einer der ersten Songs nach dem Mauerfall und Zusammenbruch des Ostblocks, der Süd-, Nord-, West- und Osteuropa verbindet. In Polen oder Ungarn, wo es aus ideologischen Gründen gar keine 'Charts' gegeben hatte, steigt das Lied in der Nachwende-Zeit in die Hitlisten ein. Die meisten Alben verkauft die Band aber mit weitem Abstand in Deutschland und der Schweiz. Damit schreibt sich die Gruppe - Stand 2023 - als zwölfterfolgreichster Act in die Annalen der belgischen Musikgeschichte ein. Weiter vorne liegen übrigens noch Jacques Brel, Helmut Lotti, Rocco Granata und Lara Fabian. Knapp hinter Vaya Con Dios folgt mittlerweile der DJ-Singer/Songwriter Stromae.
Die Band, besser das 'One Woman-Projekt' mit Anhang, gründet sich 1986. Da ist Dani bereits 33, Fan von Stax- und Atlantic-Soul. Geboren als Danielle Schoovaerts, aufgewachsen in der Stadt der EU-Zentrale, rutscht sie einigermaßen spät in den Pop-Kosmos rein. Es ist die Zeit von Hardrock, Garage, New Wave und ersten Elektronik-Projekten Anfang der 80er, als sie erstmals Session-Aufnahmen für verschiedene Freunde und Kollegen in solchen Musikrichtungen macht. Die Eröffnung einer neuen Location im Brüsseler Nachtleben gibt dann den Anstoß für den ersten spontanen Auftritt, als Gitarrist Willy Lambregt schnell ein paar Mitstreiter sucht. Aus diesem Abend resultiert die Idee einer vielköpfigen Band, die in diverse Genre-Richtungen offen ist und zudem perfekt in die 'Weltmusik'-Welle passt.
Vaya Con Dios starten mit Mundharmonika, Hammond-Orgel, Marsch-Tröte, Bläser-Sektion, zwei Schlagzeugern, drei Akustik-Gitarristen, drei Background-Sängerinnen, Dirk Schoufs am prägnanten Kontrabass und Dani als Gesicht der Band, Texterin und Sängerin. Ihre Musik produzieren die Brüsseler selbst. Neben Coverversionen entscheidet sich die Gruppe großenteils für eigenes Material. Darunter kündet ein Lied über "Puerto Rico" bereits von der Latin-Affinität des Ensembles, das manchmal Rhythmen aus Spanien und Lateinamerika verwurstet und spanische Wörter, Zeilen, später auch ganze Songs einflicht.
"Mit Spanisch fühle ich mich vertraut, weil ich eine Weile in Mexiko gelebt habe, und ich spreche Spanisch so, wie ich Englisch verwende", erzählt Dani auf Englisch in Finnland. International, wie sie ist, entwickelt sich die Region Andalusien zu ihrer zweiten Heimat: Hier regiert die Flamenco-Gitarre. Entsprechend der kulturellen Staubsauger-Funktion von Vaya Con Dios, mag es kaum erstaunen: Weltweit finden sie in verschiedensten Ecken Resonanz, auch beim MTV-Publikum. Die TV-Zuschauer sind mit 'Schuld' am schnellen Durchbruch. Bereits der Opener des Debüts schlägt bei den TED-Votings im Rahmen der MTV-Video Music Awards gut an: "Don't Cry For Louie".
Nachdem sich das zweite Album "Night Owls" - jetzt auch mit Pianist - je eine Million Mal inner- und außerhalb Europas an den Kassen der Kaufhäuser scannen lässt, ist die Band ständig im Fernsehen zu erleben. Entweder rotiert eines ihrer Videos gerade, oder sie gibt live einen Auftritt vor laufenden Kameras. Der Stress-Pegel steigt. Mastermind Dirk Schoufs versumpft zwischen Medikamenten und Alkohol, toppt das Ganze mit Drogen und wird aus der Gruppe gedrängt. Ein paar Wochen nach der Trennung stirbt er.
Der Ball ist aber bereits am Rollen. Vaya Con Dios haben einen Vertrag bei der Münchner Ariola, von ihnen erwarten Publikum und Plattenfirma noch mehr. "Hey na na na", jeder kann das 1991 singen. Dem Lied entkommt nur der Alm-Öhi, und das Stück findet zwischen "Ich bin der Martin, ne?" von Diether Krebs und "Hier kommt Kurt" von Frank Zander rasch einen Platz auf Karaoke-Partys. Vaya Con Dios machen weiter und können mit "Time Flies" Verkaufszahlen und Qualität halten. Der Hit des gleichnamigen Albums heißt "Heading For A Fall" und macht einen souligen Eindruck.
Der vierte Longplayer "Roots And Wings" schreibt das Genre-Kauderwelsch mit Elementen aus Musik weiterer Kontinente fort. In der Schweiz wirkt das noch magnetisch und beamt sich auf Rang Drei der Album-Charts. Das deutsche Publikum steigt allerdings aus. Airplay im Radio bekommt die Band kaum noch. Die Ära von Mainstream-Hip Hop, Drum'n'Bass und House übernimmt, Vaya Con Dios scheinen irgendwie von gestern. Kuriosum: Sind Druck und Stress der Grund, man weiß es nicht - jedenfalls fallen Dani ihre Haare aus.
"Ich musste die letzten Konzerte canceln, (...) der Stress war schrecklich. Ich hab keinen Draht zu meinen Musikern mehr, die kamen nur, um zwei Monate ihren Job zu machen. Ich weiß nicht mal, ob sie die Musik mögen. Über sowas redeten wir nicht", jammert Klein im Magazin Weekend-Knack. "Ich schätze, so läuft das: Man fängt klein an, und dann wird die Sache immer größer und größer." - Es wird ihr alles zu groß, zu viel, sie nimmt eine Auszeit, steigt bei einer anderen Band ein, dann ganz aus dem Business aus.
2004 vermarktet sie ihr Album "The Promise" und umgibt sich mit neuen Arbeitspartnern aus Belgien, Jean-Pol Van Ham und Bertil André. Obwohl sie nun sogar auf Deutsch singt, nimmt die hiesige Medienöffentlichkeit keine Notiz vom Comeback. "Zu Schade, das bisher das Publikumsinteresse auch bei 'The Promise' zu gering ist, um ein richtiges Comeback einzuläuten – verdient hätte es Vaya Con Dios auf jeden Fall", urteilt das Portal queer.de (mit Tippfehlern) im November 2004 und lobt, dass die Band in den 80ern "viele schwule Fans" gefunden habe. In der "Deutschland-AG", in der der spätere Strafgefangene Peter Hartz gerade 'Hartz IV' einführt, wird die Band also trotz solch ruhmreicher Vergangenheit verschmäht. Derweil beißen neben den Schweizern auch wieder die Finnen an, und in ihrer Heimat braucht Dani nicht groß die Werbetrommel zu rühren. Da kennt man sie noch.
In Deutschland spülen erst Milk & Sugar die Stimme wieder in Erinnerung, deren Version bis zum Überdruss die Jahreswende 2010/11 als Soundtrack allüberall begleitet. Zur Omnipräsenz trägt noch ein weiteres Re-Work, "Gypsy Moves" von Yolanda Be Cool a.k.a. Vanity, bei. Mit dem Begriff 'Gypsy' identifiziert sich übrigens auch Dani Klein selbst. Beim 'Tag der Roma' tritt sie im Europaparlament auf und erklärt der Pressestelle in Straßburg, warum. "Einerseits macht man sich die Kultur der Roma zu Eigen, einem Volk, das man andererseits verleugnet und diskriminiert. Ich habe keine politische Botschaft außer der, dass wir uns gegenseitig respektieren sollen. (...) Ich bin kein Experte klassischer Musik, aber Brahms wäre nicht Brahms, wenn es die Musik der Zigeuner nicht gebe, und das trifft auf viele klassische Komponisten zu. Ihre Musik, ihre Sprache, ihre Traditionen tragen zur Vielfalt Europas bei."
Klein fährt fort, und dieses Statement zeigt, dass hinter ihrer Verquickung von Musiktraditionen echtes Interesse steckt: "Momentan sieht man sehr viele Roma in Brüssel, insbesondere an roten Ampeln. Viele Leute sagen mir 'Ich gebe denen nichts, die machen es sich einfach.' Ich denke, dass es im Gegensatz sehr schwer ist, so zu leben. Hat jemand Lust darauf, aus freien Stücken den ganzen Tag Kohlendioxid einzuatmen (...) um fünfzehn oder zwanzig Cent und dazu einen verachtenden Blick zu bekommen? Ich denke, das ist die falsche Einstellung."
Nichtsdestotrotz hätte Dani eigentlich noch was ganz anderes zu bieten außer 'Gypsy' und dem Remix-Humpftata ihres größten Hits: Ihr Chanson-Album "Comme On Est Venu", in dem sie sich dazu bekennt, stark von der französischen Liedkunst geprägt zu sein.
Dafür umgibt sie sich wieder mit neuen Kollegen und nennt auch diese Truppe Vaya Con Dios. "Ich arbeitete mit wunderbaren Jazzmusikern", schwärmt sie im Schweizer Blog Nahaufnahmen. "Deshalb war mein Ansatz ursprünglich, die Lieder so einzuspielen, wie man dies früher tat: Sich mit den Musikern im Studio treffen, während drei Tagen proben und danach das Album aufnehmen. Das haben wir auch getan, aber das Resultat war nicht zufriedenstellend." - Sie engagiert ihren Sohn als Ko-Produzenten und lässt ihn die Lieder so überarbeiten, dass sie mehr Fülle erhalten. Dani ist vom Resultat begeistert, das Publikum nicht. Leider, denn die Platte packt ein ernstes Thema frühzeitig an.
"Wenn die Menschen beispielsweise in Ländern wie Marokko, Afghanistan oder Pakistan bessere Lebensumstände und eine Perspektive hätten, würden sie sicher nicht ihre Familien, Eltern und Kinder verlassen, um im Winter in der Kälte in einem Brüsseler Park zu schlafen. (...) Zudem ist da noch der Druck der Familien, die im Heimatland zurückgeblieben sind. Sie stellen sich vor, dass die Flüchtlinge, kaum in Europa angekommen, bereits reich sind und verlangen von ihnen, Geld nach Hause zu schicken. Für diese Probleme habe ich keine Lösung parat", kommentiert Dani ihr Lied "La Pirogue De L'Exode" im Interview mit den Nahaufnahmen: "Ich möchte diese Dinge jedoch von einem menschlichen Standpunkt aus betrachten und die Leute nicht stigmatisieren, denn ich sehe, dass ihre Probleme real sind. Wenn die Weltpolitik nicht so korrupt wäre, auch in ihren Heimatländern, hätten diese Menschen oft auch keinen Grund, auszuwandern."
Während der großen Asylkrise in den 2010ern scheint die Sängerin jedoch abgetaucht. Lediglich ein Live-Album erinnert an die fast zur Marke gewordene Band mit ihrer einmaligen Handschrift. Erst 2022 traut sich die Sängerin wieder, mit einer Art Best-Of, den alten Vaya Con Dios-Hits eine neue Politur zu verleihen und meldet sich zurück. Mit dem Pianisten William Lecomte spielt sie ihre alten Klassiker unplugged ein.
Wie bei so vielen Artists ist es der Lockdown, der ihr Gelegenheit gibt, an alten Song-Ideen weiter zu feilen. 70 geworden, schiebt sie das Album "Shades Of Joy" in abermals neuer Besetzung nach. Der Titelsong handelt von Danis Persönlichkeit und ihrer Ausstrahlung. Ko-Autor Baï verfasste das Stück über sein Bild von der Künstlerin, seit er sie vor Jahren kennen lernte und wie sie sich seither aus seiner Sicht entwickelte.
Weitere Themen: "Oft ist Liebe eine Form der Sucht, und wie alle Süchte ist sie toxisch", urteilt Dani. "Die Songs erzählen vom Leben, wie ich es sehe. Es ist grausam, lustig, schrecklich, leicht. All diese Dinge hängen davon ab, was du gerade durchmachst." - Unabhängig von den Texten, ist die Freude beim neu gefundenen Label CNR Records sowieso groß, über eine Band mit einem solch weltweiten Renommée.
Manche Tracks auf "Shades Of Joy" schlagen einen feministischen Puls: "Ich spreche über den Platz, den Frauen in unserer vermeintlich gleichberechtigten Gesellschaft haben. Sie kämpfen immer noch", konstatiert Klein. "Und es scheint mir, dass der Kampf nie enden wird, da die Menschen seit Jahrhunderten im Glauben an ihre Überlegenheit erzogen wurden. (...) Wir hoffen, dass das Album gefällt. Wir steckten unser Können, unser Herz und unsere Seele hinein." - Von Vaya Con Dios existiert zwar insgesamt über die Jahrzehnte wenig Musik, diese hat dafür keine Aussetzer, zeugt in der Tat von hohem handwerklichen Anspruch, einem humanistischen Weltbild und Herzlichkeit. Sie entspricht einem Arbeitsmotto, das Dani einmal im EU-Parlament vertrat: "Der Künstler hat schon immer die Funktion gehabt, Tabus zu brechen und der Engstirnigkeit entgegen zu treten."
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