laut.de-Kritik

Dunkle Drones vom Synthie-Pop-Erfinder.

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"Ich war wirklich geschockt, als Mute sagte, dass sie dieses Album veröffentlichen wollen", verriet Vince Clarke vor kurzem im Rahmen einer Q&A-Session in London. Treffender könnte man "Songs Of Silence" klanglich nicht beschreiben. Niemand käme ohne vorherigen Verweis auf den Urheber darauf, dass der 43 Minuten lang hin und her wogende Instrumental-Soundteppich aus dem Studio des Erfinders legendärer Synthie-Pop-Klassiker wie "Oh L'amour" und "Just Can't Get Enough" stammt.

Clarke hatte wie viele Kolleg*innen während der Corona-Lockdowns neue Geräte nach Hause bestellt und schaffte sich die Bedienung von Euroracks drauf. Darunter versteht man Modularsynthesizer, die verschiedene Komponenten vereinen, selbst Klänge erschaffen und beispielsweise mit Filtern umwandeln können. Für den Besitzer unzähliger Analogsynthesizer eine neue Art des Musikmachens, die man als Hörer*in natürlich so nicht wahrnimmt. Außerdem zog er sich nach eigenen Worten alle Science-Fiction-Filme aus der Netflix-Datenbank rein, was ebenfalls Spuren hinterließ.

"Songs Of Silence", als Hommage an den von Clarke geliebten Simon & Garfunkel-Klassiker "Sounds Of Silence" gedacht, hängt als Ambient-Album im Jahr 2023 nicht im luftleeren Raum - zu nah sind die Assoziationen an bekannte Aushängeschilder des Genres wie Brian Eno oder Jean Michel Jarre, mit dem er 2015 auf "Electronica 1 - The Time Machine" kooperierte. Doch Clarke gestaltet seinen Trip atmosphärisch abwechslungsreich, lässt etwa nach dem sakralen Start mit den warmen Flächen in "Cathedral" das für ihn typische, tröpfelnde Synthpluckern erklingen ("White Rabbit"), das später in fast schon bösartig anmutendes Drumming mündet. Im folgenden "Passage" mit unüberhörbaren Rick Wright-Vibes überrascht dann inmitten der ausufernden Synth-Epik der opernhafte Gesang von Caroline Joy.

Jeder Song sollte zudem um eine einzige Note herum aufgebaut werden, wahrscheinlich die schwerstmögliche Herausforderung für einen Mann, der als Meister (ein-) gängiger Pop-Strukturen berühmt wurde. Leicht verdaulich ist hier wenig, "selbst meine Katze verließ nach einer Stunde das Studio", kommentierte Clarke seine Feldversuche knapp. In mancher Hinsicht ist es The Dark Side Of VCMG, seinem Techno-Album mit Martin Gore von 2012, nur dass sich sein verspielter Experimentalismus hier in monoton-düsterem Drone-Minimalismus offenbart. Sehr eindrücklich gerät "The Lamentations Of Jeremiah", wo plötzlich ein sägendes Cello in den Mahlstrom hereinbricht, bevor im noch bedrohlicheren "Blackleg" das Sample eines alten Volkslieds über Clarkes Sounds für thrillerartige Spannung sorgt.

Wie schon bei Alan Wilders Recoil-Projekten schiebt Mute-Chef Daniel Miller auch noch im gesetzteren Alter jegliche Ansprüche an Kommerzialität beiseite, wenn es um die Musik seiner Freunde und langjährigen Vertragskünstler geht. Ein Album wie "Songs Of Silence" wiederum hätte man im Ansatz eher dem erwähnten Wilder zugetraut, dessen Lust an der Musikdistribution offenbar leider für immer verstummt ist. "Am Musikmachen ist vor allem der Prozess das Schöne, nicht unbedingt das Ergebnis", ließ Clarke wissen. Als Ergebnis nächtelangen Auslesens von Bedienungsanleitungen und Youtube-Tutorials ist "Songs Of Silence" durchaus angenehm geraten und empfiehlt seinen Schöpfer für zukünftige Soundtrack-Angebote.

Trackliste

  1. 1. Cathedral
  2. 2. White Rabbit
  3. 3. Passage
  4. 4. Imminent
  5. 5. Red Planet
  6. 6. The Lamentations Of Jeremiah
  7. 7. Mitosis
  8. 8. Blackleg
  9. 9. Scarper
  10. 10. Last Transmission

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1 Kommentar

  • Vor 4 Monaten

    Meines Wissens hat Vince schon zu Erasure-Frühzeiten Modularsysteme genutzt - zumindest das Roland System 100m. Ist kein Eurorack, klar, das gab es noch nicht, aber der Begriff Eurorack beschreibt ja in erster Linie das Modulformat, ist daher also im Prinzip dasselbe - wobei es im Eurorack natürlich diverse Digitale Sachen gibt, die es in den klassischen Modularsystemen der 70er nicht gab.