laut.de-Kritik

An der Schnittstelle von Neu! und Massive Attack.

Review von

Wir alle wissen, was der Begriff Fast Food-Musik meint. Profit- und marktorientierte Musik ohne Geist und Seele, so sexy wie ein Businessplan, vorgetragen von austauschbaren Marionettenpüppchen der Industrie, die gerne in Castingshows aufgelesen werden. Nach einem Sommer sind ihre Songs in der Regel vergessen.

Obwohl auch Alan Wilder vor knapp 30 Jahren bei einem Casting der Band Depeche Mode gewann, ist seine Musik das komplette Gegenteil. Mit etwas Sarkasmus könnte man sogar behaupten: Recoils Musik ist das Ergebnis davon, wenn eine Plattenfirma seinem Künstler keine Deadlines setzt.

Diese Freiheit äußert sich seit Jahren in ellenlangen, oft unbequemen, weil meist in düster-experimentelle Trip Hop-Strukturen abdriftenden Songs fernab jeglicher kommerzieller Erwartungshaltung. Musik, wie man sie von einem ausgebildeten und talentierten Pianisten erwarten darf. Im Kopf behielt man Recoil-Songs maximal dann, wenn man sie einen Sommer lang täglich hörte.

Eine Best Of-CD eines Künstlers zu veröffentlichen, der trotz zahlreicher Gastsänger nie einen Hit vorzuweisen hatte, mag zunächst irritieren, liegt aber im familiären Verhältnis zu Mute-Chef Daniel Miller begründet. Da Wilders frühere Hauptband Millers Kassen jahrelang sirenenhaft klingeln ließ, hatte der Keyboarder für sein Soloprojekt stets Carte Blanche.

Ungeachtet des orchestralen Score-Charakters sämtlicher Recoil-Alben funktioniert "Selected" auch als zusammen gestellte Werkschau aus dem 18-jährigen Schaffen des britischen Control Freaks (die aus purem Zeitvertreib entstandenen 80er Jahre-Alben, die aus Sample-Collagen bestehen, wurden ausgeklammert).

Nicht zuletzt dank Recoil bedarf es heute keiner Beweise mehr, welche vorgeordnete Rolle Wilder bei Depeche Mode in Sachen Soundauswahl und Song-Atmosphäre spielte. Hier kollidiert diese konzeptionelle Besessenheit mit den vielfältigen Musikvorlieben des Keyboarders: Ob Jazz, Hip Hop oder Blues, Recoil-Songs waren für das Gros der Depeche Mode-Fans schwer greifbar.

Hit-Charakter weist allenfalls das 1992 mit Nitzer Ebb-Sänger Douglas McCarthy eingespielte "Faith Healer" auf, das allerdings ein Cover des 70er-Klassikers von Alex Harvey ist. Der lässige Gospel der Single "Jezebel" vom 2000er Album "Liquid" erinnerte zwar frappant an Mobys kurz zuvor erschienenes "Play"-Album. Dennoch blieb das dazugehörige Album Lichtjahre vom Erfolg des New Yorker Techno-Zwergs entfernt.

Doch auch für Fans von Massive Attack oder Neu! könnten Stücke wie "Strange Hours" (mit einer unglaublichen Diamanda Galás), das dramatische "Want" oder die Galeerenbeats in "Shunt" eine Art Erweckungserlebnis darstellen. Es bleibt ein Rätsel, warum bis heute noch kein Regisseur des Kalibers David Lynch auf Wilders Soundtrips aufmerksam geworden ist.

Trackliste

  1. 1. Strange Hours
  2. 2. Faith Healer
  3. 3. Jezebel
  4. 4. Allelujah
  5. 5. Want
  6. 6. Red River Cargo
  7. 7. Supreme
  8. 8. Prey
  9. 9. Drifting
  10. 10. Luscious Apparatus
  11. 11. The Killing Ground (Excerpt)
  12. 12. Shunt
  13. 13. Edge To Life
  14. 14. Last Breath

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