laut.de-Kritik

Ein forderndes, unbequemes Meisterwerk.

Review von

Vince Staples hat sich mit seinen gerade einmal 23 Jahren schon mehrfach neu erfunden. Vom synthiedurchsetzten Westcoast-Sound seiner ersten Mixtapes verabschiedete er sich spätestens mit seinem Langspielerdebüt "Summertime '06“, das unter der Federführung von NO I.D. eine ganze Spur düsterer und schwerer anmutete. "Big Fish Theory" – und das konnte man bereits an der letztjährigen "Prima Donna" EP erahnen – bricht nun erneut mit dem gewohnten Soundbild und setzt an den ganz wunden Punkten an. Statt Long Beach oder Atlanta heißen die Soundvorbilder nun Detroit und Berlin, statt genügsam zu sein gräbt sich Staples mit dem Album ganz fies in die Gehörgänge.

Dafür scharrte Vince eine illustre Produzentenrunde um sich, bestehend aus Zack Sekoff, Sophie, GTA, Justin Vernon und Flume, die radikal in neue Soundlandschaften vorpreschen. "Big Fish Theory" macht nur wenig bis keine Zugeständnisse an die üblichen Hörgewohnheiten, sondern erinnert ob seiner Brachialität an die Wucht eines unerwarteten Kinnhakens. Im Vorfeld sprach Staples von seinem eigenen 'Afro-futurism', und tatsächlich scheint er seiner Zeit ein Stück voraus zu sein. Denn das Album verbindet, was bislang nicht zusammengehörte: eisigen G-Funk mit Field Recordings, treibenden Detroit-House mit krachendem UK-Industrial. Seine "Big Fish Theory“ ist unbequem und fordernd – und somit genau das, was viele am derzeitigen Status Quo vermissen.

Schon im Opener "Crabs In A Bucket" lässt Staples erahnen, dass er auch auf lyrischer Seite nichts von seiner scharfsinnigen Beobachtungsgabe eingebüßt hat. "They don't ever want to see the black man eat/ Nails in the black man's hands and feet, heißt es äußerst unverfroren auf einer treibenden Bon Iver-Co-Produktion, über die Staples trocken und ohne Atempause fegt. Zwar erreicht Vince lange nicht die politische Sprengkraft eines Kendrick Lamar, trotzdem treffen seine pointierten Stiche immer wieder den richtigen Nerv. Die erste Auskopplung "BagBak" wütet am stärksten in Richtung Obrigkeiten und Rassendiskriminierung: "Prison system broken, racial war commotion/ Until the president get ashy, Vincent won't be votin'". Kern des Ganzen: "Until they love my dark skin/ Bitch I'm goin' all in".

Andererseits richtet Staples seinen Blick genauso schonungslos nach innen. Nachdem "Alyssa Interlude" mit einem Amy Winehouse-Interviewschnipsel startet, driftet der Song in ein sensibles Liebeswirrwarr ab. Staples scheinbar teilnahmsloser Singsang erinnert an "Summertime", das Herzstück der Vorgängerplatte. "Sometimes, people disappear/ Think that was my biggest fear/ I should have protected you/ Sometimes, I wish it would rain", sinniert Vince, bevor ein kanye'eskes The Tempations-Sample einsetzt: "Sunshine, blue skies/ Please go away". Der wahrscheinlich schönste und auch verletzlichste Moment der Platte.

Zwar gibt es auch weiterhin tiefe Einblicke - nur eben mit voller Breitseite vorgetragen. "Love Can Be..." erinnert mit seinen unaufhaltsamen Drums an eine der besseren Kaytranada-Produktionen, für das Intro steuerte Damon Albarn ein paar wenige Wortfetzen bei. Auch ansonsten halten sich die Gäste angenehm zurück. Einzig Kilo Kish entwirft mit ihren Gesangsparts immer wieder einen geeigneten Gegenpol zu Staples pulsiven Flows. A$AP Rocky ist auf dem brachialen Industrial-Ungetüm "SAMO" kaum zu hören, dafür behauptet sich Staples umso besser. Sowieso bändigt er scheinbar mühelos die experimentellsten Produktionen, wozu sonst wohl nur Kendrick Lamar in der Lage wäre.

Auf "Yeah Right" kommt es wenig später folgerichtig zum Gipfeltreffen der temporär besten Westcoast-Rapper. Auf einem monströsen Flume/Sophie-Beat jonglieren Vince und Kendrick nur so mit Flow-Variationen umher und lassen sich gleichzeitig über Moral und Materialismus aus. Noch besser wird es nur mit dem schneidenden G-Funk-Banger "745": Vince schwingt sich zum bösen Gegenspieler von YGs gutgelauntem Lowrider-Sound auf und zeichnet ein dystopisches Bild seiner Heimat, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken.

"Big Fish Theory" verdichtet eine schier unglaubliche Bandbreite an musikalischen Einflüssen auf nur etwas mehr als 30 Minuten Spielzeit so kohärent, dass dem Album nur der Begriff Meisterwerk gerecht wird. Spannender wird HipHop in 2017 nicht mehr.

Trackliste

  1. 1. Crabs In A Bucket
  2. 2. Big Fish
  3. 3. Alyssa Interlude
  4. 4. Love Can Be…
  5. 5. 745
  6. 6. Ramona Park Is Yankee Stadium
  7. 7. Yeah Right
  8. 8. Homage
  9. 9. SAMO
  10. 10. Party People
  11. 11. BagBak
  12. 12. Rain Come Down

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