laut.de-Kritik
Eine elektronische Flusslandschaft.
Review von Yannik GölzEs klingt einen Moment lang wie die orientalistische Selbst-Parodie des ersten Yellow Magic Orchestra-Albums, wenn Yu Su für den Opening-Song ihres Migrations-Album auf Track eins die Pipa herausholt. Das traditionelle chinesische Instrument auf einem Electronic-Album, inspiriert von einer Reise entlang des großen chinesischen gelben Flusses Huang He. Ist das jetzt plakativ? Mitnichten. Im Gegenteil: Signifier von Ort und Zeit zerfließen im Laufe von "Yellow River Blue" zu einem analytischen Ausloten von musikalischen Grenz-Gefilden. Das Ergebnis sind hypnotische und gänzlich Genre-fluide Klang-Mosaiken, in denen die sino-kanadische Produzentin mit minimalistischen und kühlen Mitteln ganze Landschaften entwirft.
Der Opener "Xiu" demonstriert handwerkliches Gespür für Layering. In Laufe von vier Minuten interpoliert sie die Pipa neben organischen Percussions, House-Groove, analogem Synthesizer-Arrangement und Vocal-Samples und erzeugt beeindruckendes Zwischenspiel. Über ihren bislang größten Song "Watermelon Woman" sagte sie einmal, sie wollte Herbie Hancocks "Watermelon Man" in Verspieltheit und Solo-Stil spiegeln. Eine ähnliche Adaption von Jazz-Songstruktur findet sich auch hier: Durch die präzise angeordneten Klangräume und die formlos ineinander übergehenden Melodien ohne Zentralmotiv wirkt es, als tun sich die Loops abwechselnd zum Solo hervor.
Was dabei entsteht, funktioniert als Statement-Piece und als Dancefloor-Stück gleichermaßen. Dass Yu Su so sperrige Sound-Ideen eingängig klingen lassen kann, sieht man auf dem Herzstück der Platte, "Melaleuca", einem so verspielten und organischen Synth-Banger, dass man allen verkopften Anspruch an das Projekt für eine Moment über Bord wirft und tanzen möchte. Wie viele Genres und Songwriting-Techniken hier eingeschoben sind, wie viel kulturelle Signifikanz darin stecken könnte? Geschenkt. Wenn alle Melodieläufe und Sounds auf "Melaleuca" in der letzten Minute zu einem schallenden und euphorischen Refrain anschwellen, versteht die Musik sich von selbst.
Nicht alle Songs auf "Yellow River Blue" basieren auf diesem Level an Vielschichtigkeit. Oft fokussiert sich ein Song auf das Herausarbeiten eines Motivs. Die nervöse Aneinanderreihung von anorganischen Dub-Bässen auf "Futuro" klingt nach Aluminium und Geisterstadt, auf "Klein" hört man eine Großbaustelle in Zeitlupe und Zeitraffer zugleich. Es sind sehr spezifisch arrangierte Klänge, die bewusst gegen konventionelle Hörgewohnheiten arbeiten, die aber doch markante Bilder erzeugen. Die Räumlichkeit des Loops wird durch den Zeitverlauf der Progression erodiert. Oft zerfallen die Songs in den letzten Minuten durch zusätzliche Filter und Störgeräusche, kleine, invasive Störgeräusche und unterschwellige Sabotage-Sounds.
So trifft auf "Yellow River Blue" Bewegung und Stillstand aufeinander. Die bewegten Passagen leben im Zwischenspiel von perfekt ineinander geflochtenen Melodieläufen und vielschichtigen Sound-Layers. Die Ruhepole zoomen aus der aktiven Bewegung und werfen einen ganzheitlichen Blick auf die Objekte: Geräusche aus Fabriken, industrielle Percussion, digitale Synthesizer, Gemurmel aus der Großstadt, alles verwächst in einen verschwommenen Zeitraffer.
Dadurch wird auch die Pipa im Intro sinnhaft, denn das Album hat sich wohl zum Ziel gesetzt, den Fluss in all seinen Facetten und Blickwinkeln aufzuzeichnen. In dieser Hinsicht stellt es die klarste Bedeutung des antiquierten Begriffs der Weltmusik, ohne exotisierenden Folk-Kitsch, sondern nüchtern aufgenommen durch den Blick der Migration. Man nenne es Ambient Dub, Outsider-House oder alternativen Electro, im Kern ist "Yellow River Blue" eine Beobachtung von Yu Su, die anschließend in angemessener musikalischer Form ausgedrückt wurde.
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