laut.de-Kritik
AIDA für die Zwanzigjährigen.
Review von Yannik GölzIch habe gegenüber dieser Zahlencrew aus Dresden die längste Zeit Neutralität gewahrt. Die gibt es jetzt schon eine Weile, man kriegt auch sicher jedes Jahr hier oder da mal einen Track mit, den man sich schon geben kann. Da übersieht man nahezu, dass "Kinder Der Nacht" inzwischen schon ihr fünftes Projekt ist und die Hoffnung schwindet, dass die je irgendetwas als den selben Track im Loop machen werden.
"Kinder Der Nacht" ist aber trotz aller Durchschnittlichkeit das erste Album, das mir das Gefühl gegeben hat, dass hier etwas tatsächlich Wackes unter dem Radar fliegt. Ist eigentlich schon mal jemandem aufgefallen, dass 01099 zwischen den passablen Electro-Beats und den momentanen absoluten Szene-Standard-Vocals wirklich eine absurde Band sind? Da sind also diese Dudes aus Dresden mit ihren TKKG-ass-Vornamen als Rappernamen und machen wehmütig-zeitgeistigen Dance-Pop-Rap für Erstsemester-WG-Partys. Es ist so Zielgruppen-genormt, wirklich niemanden anzupissen, dass man fast nicht merkt, wie wenig es eigentlich richtig macht. Mag schon sein: Diese Musik klingt schon vage wie das, was man sich unter Zeitgeist vorstellt. Aber wenn 01099 der Generations-definierende Zeitgeist sind, dann ist der Zeitgeist sterbenslangweilig.
Was passiert in ihrer Musik? Da sind also diese vier Wohlstandskids, die studieren oder vom Rap leben, weswegen sie den ganzen Tag nichts zu kacken haben. Ergo fahren sie an den See und trinken lecker Bierchen. Dann fahren sie in die Kneipe und trinken lecker Bierchen. Zwischendurch geht es schon auch mal auf ein Festival oder nach Kreta, da gibt es dann auch mal lecker griechischen Wein. Ihr Leben ist gut, ihre Freunde sind die besten, sie haben ganz viel Sex, sogar, wenn es ihnen mal nicht so gut geht, dann fahren sie nämlich eben an den See oder in die Kneipe und trinken lecker Bierchen.
Jetzt die Frage, die mich gebrochen hat: Was an diesem Zustand provoziert denn diese ständig herbeifantasierte Melancholie, die wie Smog über diesem Album hängt? Die Protagonisten dieser Tracks haben keine großen Sehnsüchte, die kleinen Sehnsüchte sind dafür aufs Zehnfache befriedigt. Da ist kein feinsinniger Kontrast aus gutem Leben und dahinschmelzender Jugend oder wie auch immer man das rechtfertigen wollen würde. Die spacey-generische Dancefloor-Tristesse prallt auf "Kinder Der Nacht" ohne jede Synergie an Texten voller Humblebrags ab.
Was gibt es zu lamentieren? "Ich würd' dich gerne küssen, anstatt dich grad zu vermissen / Sommer, Sonne, Kaktus, aber mir geht es beschissen", eröffnen sie das Album mit dem großen Hit "Küssen". Welchem Schlagersänger haben sie denn diese Hook geklaut? Immer wieder wird für die Illusion von Tiefgang ein bisschen Stress in der Beziehung anskizziert. Worüber man sich streiten soll, bei diesen Leben, das erfahren wir nicht. "Weil Du Mir Fehlst" ist ein Song, aus dem man nicht mal zitieren könnte, weil all die Lyrics so ohne Details oder Anknüpfungspunkte wie Sand in der Hand zerlaufen. Alles was sie über ihre ach so schmerzenden Beziehungen zu erzählen haben, ist ein Gefasel sondergleichen. Man kann nichts greifen, sich nur mit der allgemeingültigst möglichen Veräußerung von ":(" identifzieren. Arme Bubus! Guckt mal wie traurig die da am Strand stehen auf dem Cover! So ein hartes Leben!!!
Ist ja auch okay, auf dem Track drauf geht es bestimmt wieder in den See und an die Kneipe und aufs Festival und auf Kreta. Hört euch bitte das Interlude "Angekommen" von einer Frau namens Bekkaa einmal an und ergänzt in eurem Kopf darunter die Visuals und den Jingle einer Bierwerbung. "Ich glaube dieser Sommer ist endlos, wenn wir aufhören, alles zu zerdenken. Er ist endlos, wenn wir ihn endlos machen. Warsteiner. Bitte ein Bit". Jesus, ey. Lebensgefühl, unsere jungen Kunden wollen Lebensgefühl, und da muss man schon auch mal emotional die richtigen Knöpfe drücken!
Das wäre ja alles okay, wenn es musikalisch etwas hergeben würde. Aber auch hier hat "Kinder Der Nacht" nicht viel zu bieten. Klar, es hat immer noch diesen grundsätzlich angenehmen Afterhour-Vibe, aber in der Summe klingt es eher, als würde jemand die Chillectro-Playlist auf Spotify im Shuffle durchlaufen lassen und halb-bekifft darüber freestylen. Es wummert apathisch vor sich hin, Höhen oder Tiefen braucht man gar nicht suchen. Wie all ihre Tapes geht es in einer Welle durch, der künstlerische Anspruch ist lange schon den Band-eigenen Phrasen gewichen. Ab und zu einmal "Nazis raus" oder eine Mental Health-Phrase einzumischen, ersetzt aber keinen Tiefgang.
01099 sprechen von einer konstanten Party, aber auf "Kinder Der Nacht" stellt sich zum ersten Mal der Eindruck ein, dass diese Party vielleicht gar nicht so spannend ist. Die kleine Illusion von Melancholie, die an bessere Artists erinnern soll, weil diese Dudes sie bestimmt mit nichts Konkretem unterfüttert kriegen, täuscht nicht darüber hinweg: Das Lebensgefühl von 01099 ist gar nicht groß anders als das Lebensgefühl von irgendwelchen Mittvierzigern auf einem Kreuzfahrtschiff. Es ist AIDA von und für die Zwanzigjährigen, die in zwanzig Jahren genau da landen werden. Es ist süffiger, apathischer All-Inclusive-Hedonismus-Kitsch, der sich nur herausnehmen kann, irgendwie cool zu wirken, indem er allen Wohlstand konsequent ausblendet, der notwendig ist, um jemals überhaupt so ein Lebensgefühl leben zu können. Und selbst mit all diesem Gedankenspagat schaffen sie es nicht, diesen Lifestyle irgendwie besonders reizvoll oder anrüchig aussehen zu lassen. Alle Highs und Lows, die großen Momente und die Trauer, es tröpfelt in einem Rinnsal dahin.
6 Kommentare mit 11 Antworten
Es ist einfach zutiefst deutsch, zu lamentieren. Ich weiß nicht, ob es schon immer so war, aber immer ist irgendwer anderes an irgendwas, was einen selbst betrifft, schuld, immer ist irgendwas nicht in Ordnung, irgendwas fehlt durchweg, irgendwer hat es - natürlich zu unrecht - besser, irgendwer hat auf der Aida die leckeren Lachsröllchen, auf die ich mich so gefreut hatte, aufgegessen, immer kriegen die Ausländer unser Geld, unsere Frauen, unsere Jobs, nie zahlen die Arbeitnehmer das durch Leistung zurück, was ich ihnen als Arbeitgeber überweise (obwohl ich komischerweise ganz viel Geld damit verdiene), immer stresst mich als Arbeitnehmer die viele Arbeit (obwohl ich jeden Tag zwei bis drei Stunden Zeit finde, mich in der Kaffeeküche über den Arbeitsanfall zu beschweren), nie gibt der böse Lehrer meinen Kindern die 1 plus, die sie in ihrer geerbten Genialität verdienen, immer machen mir diese Grünzeug-Fresser durch ihre passiv-aggressive Art die Currywurst schlecht, irgendwer will mir immer den absoluten Kern meiner persönlichen Freiheit, nämlich (theoretisch) so schnell es irgend geht auf deutschen Autobahnen zu fahren, entziehen, immer sind alle neidisch auf mein wohlverdientes (geerbtes) Vermögen und wollen davon was abhaben, immer fällt der geleerte Joghurtbecher um, wenn ich den Löffel reinstelle, nie will eine Frau mit mir anbändeln, obwohl ich wirklich gut in WoW (und CS erst!) bin und erst letzten Monat, kurz nach meinem 33. Geburtstag, meine Bude im Souterrain meines Elternhauses aufgeräumt habe, immer schmerzen mir die Knie und der Rücken und der blöde Arzt meint auch noch, es gebe da eine Verbindung zu meinen Essgewohnheiten und meinem Gewicht (wie soll ich da mit Rauchen aufhören?), nie ist mein Leben wie das der anderen auf Insta. Diese Album ist also nur konsequent-zeitgeistig-deutsch. Denk ich an Deutschlands "Kinder Der Nacht", bin ich um den Schlaf gebracht, ist aber zugegebenermaßen auch nur ein Unterfall des Lamentierens.
ich finds schön geschrieben aber ich check nicht, ob du das album oder die rezi scheiße findest^^
Ich tippe doch stark auf das Album, weil der Rezensent ja schreibt, er verstehe nicht, wieso die Texte voller Melancholie sind, obwohl es den Besungenen ja anscheinend sehr gut geht.
Und ja, Zustimmung: Gut geschrieben, wie auch die Rezension.
Ich wollte die Stoßrichtung der Rezension, die sich an dem Lamentieren der Band stört, stützen und verallgemeinern.
sehr nice, sehr nice
(Möglicherweise einziger) Kernaspekt doitscher Leidkultur
https://www.frankfurter-hefte.de/artikel/d…
Die Leitkultur - eine Leidkultur
Ah ja, die 187 Straßenbande für beige-tragende Normie-Girls, die glauben, dass alle Menschen wie sie mit einem süßen Lächeln und positiven Gedanken (und einem teuren Urlaub) ihre eigenen Probleme aus der Welt schaffen können.
"Verschwendete Zeit" wird sicher der heiße Scheiß bei den nächsten Montage-Videos von Hochzeiten oder Reisen an Orten oder anderen Darstellungen unrealistischer Ästethik.
Einfach nicht meine Welt. Ich würde 5 Euro darauf verwetten, dass einer von den Jungs seine Freundin schlägt.
War letztens auf Konzert von denen und bin so dankbar! 01088 machen einfach Musik die ich liebe und lebe. Hatte das Gefühl endlich mit Menschen zu sein die mir zeigen dass ich genug und richtig bin, nicht so wie mein Scheiss Vater der mir schon wieder kein Geld fürs Nagelstudio überwiesen hat oder die Dreckstherapeutin die meint ich müsste an mir arbeiten.
Das hier wäre eine gute Platte, wenn die Intention hinter ihrer Aufnahme die gewesen wäre, zu eruieren, wie kartoffelig und maximal weit entfernt von ihrem Urspung Rapmusik eigentlich sein kann.
So natürlich 1/5, weiße Wohlstandskids, lasst die Finger von Rap, gottverdammt
Rezession auf jeden Fall erstmal stabile 4, vielleicht sogar 5/5 - habe hier und da sehr grinsen müssen und mich durchweg gut unterhalten gefühlt.
Das Klangerzeugnis möchte ich nun allerdings gar nicht mehr anhören
Vielleicht aber auch gerettete Lebenszeit, die für anderes nutzbar gemacht werden kann.
Eventuell hierfür:
"Jetzt die Frage, die mich gebrochen hat: Was an diesem Zustand provoziert denn diese ständig herbeifantasierte Melancholie, die wie Smog über diesem Album hängt?"
Diese Frage ist freilich rhetorischer Art, das ist mir schon klar. Nichtsdestotrotz juckt es mich, sie ein bisschen ernsthaft zu erörtern, nicht zuletzt, da ich im Arbeitssetting viel mit der beschriebenen Teilgruppe der Bevölkerung zu tun habe. Bock, anyone?
Ästhetik. Ich meine, es gab ja immer schon genug Künstler, die Depressionen ästhetisiert haben. Und wenn man die entsprechenden äußeren Merkmal besitzt (sprich: attraktiv ist) zieht das vor allem bei Boybands junge Frauen an, die diese Personen "retten" wollen. Ist zumindest ein weiterer Archetyp neben den klassischen Boybands, die der Frau in ihren Songs einfach nur den Hof machen.
Hat ja schon bei Morrissey und Lil Peep funktioniert. Hier tut es das vom kommerziellen Erfolg her auch. Wenn man jetzt mal von den authentischen Fällen absieht, die wirklich Depressionen haben und hatten, ist es halt eine kalkulierte Masche. Vielleicht ist es auch das bei den Jungs hier: Nicht diagnostizierte Depressionen, denn an und für sich müssten sie ja eigentlich ihr bestes Leben leben.
Wobei dann natürlich die Frage ist, ob jemand fröhliche Songs über Bier und Feiern hören wollen würde.
Wobei... das gibt es ja eigentlich schon mit Ballermann-Musik.
Es soll Tiefgang simuliert werden, der die Kids nicht überfordert, aber trotzdem abholt. Neben dem Rettersyndrom kann man sich aber auch zu den "aufgeklärten" Leuten zählen, die sich auskennen mit den Problemen der Welt und sich nicht davor verstecken, Gefühle zu zeigen oder über Politik zu reden. (weil ist ja kein Gangsterrap, sondern wirklich mit Inhalt!)
Liegt mit unter daran, dass der Müll als super krasser Indiescheiß beworben wird, als wäre es Mitte 2000 und Maximo Park eben gestartet. (siehe auch Diffus Magazin, Casper, Paula Hartman...)
Message und Kunst können nicht mehr interpretiert werden, die wurden ja bereits in der Pressemitteilung als absolult großartig, weltverbessernd und brandaktuell erklärt. Die Kids käuen es genauso wieder und fühlen sich
, als ob sie auch iwo dazugehören.
Man kann das ganze aber natürlich auch ins Erwachsenenalter mitnehmen. (Erst diese Woche Linkin Park Fans gesehen, die Shirin David als Industrieplant bezeichnen und sich freuen, dass "so ein Brett" auf die 1 gegangen ist.)
Hey ihr coolen und feudalen Typskys, vielen Dank für eure Reaktionen und bitte entschuldigt, dass ich meinerseits nun so lang gebraucht habe, hier auch wieder was zu schreiben - meine Brettspielexpertise war vorübergehend an einer anderen Stelle der Arena gebunden, aber ich bin nun wieder halbwegs zur Vernunft gekommen
Ok, also Masche, Masche, Masche... insbesondere per Ausschlachtung des (tatsächlich vorhandenen oder fiktiven) depressiven Gemütszustands.
Dem kann ich schon folgen und es kommt mir auch gar nicht weit hergeholt vor. Gleichsam hebt die Aussage des Rezessenten doch gar nicht konkret darauf ab, oder? Vielmehr wird - so kommt mir das vor - auf einem noch allgemeineren Level grundsätzlich in Frage gestellt, ob Menschen denn überhaupt so einen Gemütszustand haben können (dürfen?), wenn sie doch gleichzeitig materiell gut bis sehr gut dastehen und (mal vereinfacht gesprochen) die meiste Zeit "ihr Leben feiern".
Dieser letztgenannte Zustand könne eine solche Melancholie gar nicht provozieren, schreibt dieser YNK. Sie müsse also herbeifantasiert sein.
Wirkt halt auf mich doch recht eindimensional und altherrenmäßig, diese Annahme.
Kann da nicht tatsächlich irgendwo "echtes" Leid liegen unter all den Trips zum See, dem Pistazieneis und dem griechischen Weinchen?
Könnte nicht die beständige Flucht in diese Kurzweil sogar die FOLGE der unerträglichen Grundstimmung sein? Die Melancholie den Zustand provozieren und nicht andersherum?
Das denke ich mir alles so, wenn ich das lese und mal eine grundsätzlich wohlwollende und verständnisvolle Grundhaltung einnehme dabei. Und das Album natürlich immer noch nicht gehört habe, weil Kernschrott, ungehört 1/5, sollte klar sein
Wann kommt die Rezension zu "Stimmen der Nacht"?