laut.de-Biographie
Achim Reichel
Achim Reichel? Ach ja, der mit dem schmissigen Gassenhauer "Kuddl Daddel Du" und dem Mitsing-Song "Aloah Heya He" ... Das ist meist das erste, das Musikhörern zu Achim Reichel einfällt. Die wundern sich bei näherer Betrachtung oft, dass er mehr zu bieten hat als chartskompatible Schlager: erster Superstar des deutschen Beats (zusammen mit den Rattles), Rock'n'Roller, Shanty-Erneuerer, eigenwilliger Interpret klassischer deutscher Lyrik, Experimentalmusiker, Singer/Songwriter, Produzent: Kaum ein hiesiger Künstler blickt auf eine so vielfältig geprägte Karriere zurück wie Achim Reichel.
Geboren am 28. Januar 1944 in Wentorf, startete er seine Karriere als Gitarrist und Sänger der Rattles im legendären Hamburger Star Club. Sehr schnell macht sich die Band einen Namen. Bereits 1963 touren sie durch England und erspielen sich zusammen mit Acts wie den Everly Brothers, Bo Diddley, Little Richard und den Rolling Stones auch auf der Insel einen guten Ruf. Gefeiert als die "deutschen Beatles", markiert das Jahr 1966 den Höhepunkt: Die Rattles gehen gemeinsam mit den Pilzköpfen auf Deutschland-Tournee, und der Film "Hurra, die Rattles kommen" erobert sogar die Kinos.
Die Einberufung Reichels zur Bundeswehr bedeutet das vorläufige Ende der Rattles. Die Band fällt auseinander, und mit dem ausgehenden Jahrzehnt scheint auch die Zeit des Star-Clubs vorüber. Zusammen mit den Musikern Frank Dostal und Kuno Dreysse pachtet Achim Reichel die Keimzelle der deutschen Beat-Bewegung, um den endgültigen Niedergang aufzuhalten, doch Silvester 1969/70 muss er Konkurs anmelden. Damit endet gleichzeitig die Geschichte des wohl berühmtesten deutschen Musikclubs. In der Zeit danach gründet Reichel die Band Wonderland. Das einzige Album dieser Formation enthält mit "Moscow" immerhin einen nennenswerten Hit.
Nach diesem Intermezzo bricht für Achim eine Zeit persönlicher Selbstfindung an, die in eine Solo-Karriere mündet. Unter dem Obergriff A.R. & Machines veröffentlicht er von 1971 bis 1974 höchst experimentelle Klanggebilde, von denen das erste, "Die Grüne Reise", über die Jahre einen gewissen Kultstatus erlangt. Im selben Zeitraum betätigt sich Reichel erstmals auch als Produzent (unter anderem für Novalis und Ougenweide).
1976 meldet sich Achim Reichel mit einem überraschenden Paukenschlag zurück: Als Hamburger Jung mit dem nötigen Faible für Wind und Wasser ausgestattet, greift er sich für "Dat Shanty-Alb'm" eine Handvoll klassischer Seemannslieder und Shantys, um sie in einem neuen, rockigen Gewand zu präsentieren. Dieses Experiment entpuppt sich als unerwartet großer Erfolg bei Kritik und Publikum, und so folgte ein Jahr später das Album "Klabautermann", auf dem er das Konzept noch einmal variiert.
Mit "Regenballade" von 1978 beschreitet Achim Reichel wieder neues Terrain. Dieses Album, das behutsam Klassiker und neue Werke deutscher Dichtung mit einfühlsamer Instrumentierung präsentiert, zählt zu den interessantesten Arbeiten des Hamburgers. Die Idee, mythische Dichtung mit abwechslungsreichen, stimmigen Arrangements zu unterlegen, findet breite Anerkennung.
Von 1979 bis 1988 lässt Reichel in regelmäßigen Abständen von sich hören. Er besinnt sich zurück auf seine Wurzeln und intoniert zeitgemäßen, lebendigen Rock'n'Roll, der mit mit vielen Elementen aus Blues, Folk und Boogie Woogie farbig angereichert wird.
Die Zusammenarbeit mit Dichtern wie Jörg Fauser, Peter Paul Zahl und Kiev Stingl ("Hart wie Mozart") zeigen Reichel in Höchstform: Songs mit Druck und Drive und atmosphärische Balladen setzen ihn als gereiften Künstler in Szene. Die Umsetzungen von starken Texten mit oft alltäglichen Themen überzeugen auch mit musikalischer Virtuosität.
Völlig überraschend gelingt ihm mit "Der Spieler" vom erfolgreichen Album "Blues In Blond" zudem ein großer Singlehit, der ihn auch einer breiteren Zahl von Zuhörern wieder ins Gedächtnis ruft. Nach dem Tod des kongenialen Partners und Freundes Fauser 1986 textet Achim seine Songs selbst.
1988 schlägt dann wieder das Jahr der Rattles. Anlässlich der Reunion erscheint mit "Hot Wheels" ein zwar nicht sonderlich innovatives Album, das sich aber gut verkauft. Reichel dazu: "Wenn ich heute darüber nachdenke, fühlt sich die Rattles-Reunion wie ein Klassentreffen an. Da siehst du dich nach Jahren wieder, ziehst den Bauch ein und freust dich über gemeinsame Erinnerungen. Leider wirst du aber irgendwann von der Gegenwart eingeholt."
"Ich sah mich halt nach wie vor als Solo-Künstler, und häufig standen Leute vor der Bühne, die lauthals nach dem 'Spieler' brüllten - was den anderen Jungs natürlich nicht gepasst hat. Wir dachten dann darüber nach, Stücke unser aller Solo-Aktivitäten ins Set einzubauen. Was letztendlich dazu führte, dass wir einen Gemischtwarenladen auf die Bühne brachten, der das Rattles-Projekt immer mehr verwässerte. Da hörte man Balladen neben Disco-Nummern. Das passte überhaupt nicht."
Aufgrund des kommerziellen Erfolges von "Hot Wheels" erscheint 1990 mit "Painted Warriors" ein Folgealbum. Für Achim Reichel ist mit diesem Longplayer allerdings auch das Kapitel Rattles endgültig beendet. Es genügt ihm nicht, auf Dauer nur als eventueller Oldie-Zombie sein Leben zu fristen:
"Schlussendlich bin ich bei den Rattles ausgestiegen, um meinen eigenen Kram weiter zu machen. Ich habe den anderen als Abschiedsgeschenk die Rechte an dem Namen überlassen, die ich mir mal anno dunnemals gesichert hatte. Für mich war dieser Schritt wichtig. Ich wollte ein nach vorn ausgerichtetes Projekt in Angriff nehmen und das war und ist für mich eben Achim Reichel. Punkt."
Weitere Solo-Erfolge bestätigen die Richtigkeit seines Entschlusses. Das 1991er Album "Melancholie & Sturmflut" wirft sogar zwei seiner erfolgreichsten Singlehits ab: "Kuddel Daddel Du" und das von nun an auch zu so etwas wie einem Markenzeichen avancierte "Aloah Heya He". Dessen Erfolg überrascht selbst Achim Reichel, liegt die Komposition doch gut zehn Jahre fast vergessen in einem Umzugskarton und findet eher zufällig den Weg auf das Album.
1994 feiert Achim Reichel seinen 50. Geburtstag – der gestandene Rock'n'Roller lädt zu einer Riesenparty für Freunde und Fans in die Hamburger "Großen Freiheit". Ein mitreißender Live-Mittschnitt erscheint, der Reichel und seine Mitstreiter als spielfreudige, versierte Musiker präsentiert.
Wieder aufhorchen lässt Reichel 2002 mit dem Album "Wilder Wassermann", das sich als eine Art Fortsetzung zu "Regenballade" versteht. Texte von Goethe, Heine und Storm erfahren so eine interessante Neuinterpretation. Einflüsse von Pop, Rock und Folklore verschiedenster Länder fließen in einen gelungenen musikalischen Mix.
Reichel meint zu seiner langjährigen Motivation, auch auf klassisches deutsches Liedgut zurückzugreifen: "Ich erinnere mich an einen Irlandaufenthalt vor ein paar Jahren. Wir saßen in einem Pub, ein Ire spielte traditionelle Lieder und plötzlich reichte der mir seine Gitarre und sagte: 'Sing us a song from your country!' Da ging mir der Arsch auf Grundeis, weil ich nicht wusste, was ich machen sollte. Das kommt daher, weil man als Deutscher in dieser Beziehung ein bisschen verkrampft ist. Wenn man deutsche Volkslieder spielt, läuft man immer Gefahr, in die rechte Ecke gestellt zu werden. Aber es kann doch nicht angehen, dass 13 Jahre Naziherrschaft die ganze deutsche Kultur zerstören. Pete Sage hat zu mir gesagt: 'Ihr müsst euch eure Kultur wieder zurückholen.' Und das sehe ich ganz genauso. Irgendjemand muss die Courage haben, die Kultur nicht irgendwelchen Verrückten zu überlassen. Ein Volk ist nicht komplett, wenn es keine Kultur hat."
Mit "Volxlieder" (2006) und "Michels Gold" (2008) interpretiert der Hamburger den Kulturschatz deutscher Zunge erneut auf zeitgenössische Art und Weise. Ende 2009 startet Achim seine Tour "Solo Mit Euch", die er als Mix aus Musik und persönlichen Karriere-Anekdoten konzipiert. Rund fünf Jahre zieht Reichel damit durch die Lande, und beendet die "Solo"-Reihe mit dem 100. Konzert erst im Oktober 2014.
2015 erscheint mit "Raureif" das erste Studioalbum mit selbst komponierten Songs seit 16 Jahren. Hier variiert der Musiker seinen ureigenen Stil aus Folk, Pop und Rock mit auflockernden Elementen aus Reggae, Americana und lateinamerikanischen Sounds. Zwei Texte steuert der alte Weggefährte Kiev Stingl bei, eine bislang unveröffentlichte Arbeit von Jörg Fauser aus den Achtzigern findet ebenfalls den Weg ins Repertoire.
So bleibt Reichel ein sympathischer Wanderer zwischen (musikalischer) Geschichte und Moderne, der stets seinen eigenen Stil wahrt und dem lebendige Authentizität mehr am Herzen liegt, als eine glattpolierte Imagemarke zu pflegen. Als erfahrener Vollblut-Musiker fernab jeglicher Trends ist er stets für eine Überraschung gut. Achim Reichel präsentiert sich als wandlungsfähiger Storyteller.
Ob als Agent im "Nachtexpress", verzweifelter "Spieler", sehnsüchtig "Fliegende Pferde" an einsamen Stränden erwartend, den "Seidenrosenduft" einer Geliebten beschwörend: Immer trifft er über Jahrzehnte hinweg den Nerv seines Publikums. Ein Ende ist nicht abzusehen, auch nicht nach dem so final benannten "Schön War Es Doch - Das Abschiedskonzert", das Reichel kurz vor seinem 80. Geburtstag erscheint.
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