laut.de-Kritik
Ein Prog-Brett. Besser als Steven Wilson?
Review von Manuel BergerChris McGarel von Echoes And Dust ist der Meinung, "Until All The Ghosts Are Gone" wäre das beste Album, das 2015 bisher hervorgebracht hätte. Ja, besser als "Hand. Cannot. Erase.". So weit, Anekdotens sechstes Studioalbum über Steven Wilsons neuestes Meisterwerk zu stellen, würde ich zwar nicht gehen. Viel fehlt allerdings nicht.
Acht Jahre liegen zwischen diesem Output und dem Vorgänger "A Time Of Day". Anders als vielen Fans blieb mir diese Wartezeit zum Glück erspart. Bis vor ein paar Tagen hatte ich nämlich noch nie etwas von Jan Erik Liljeström, Anna Sofi Dahlberg, Nicklas Barker und Peter Nordins gehört. Und dabei wohl so einiges verpasst.
Mit den ersten Tönen von "Shooting Star" verliert man sich in den Kompositionen der Schweden. Im ersten Track dominieren komplizierte, verschwurbelte 70er-Prog-Riffs. Sofort kommt Opeths "Heritage" in den Sinn. Und wer sitzt an der Hammond? Per Wiberg. Trotz Ähnlichkeiten zu dessen alter Band klingt "Shooting Star" aber nicht wie eine Kopie. Insbesondere bei den Gesangsparts werden die Unterschiede offensichtlich. Liljeström geht sehr zurückhaltend, in seinen Melodien geradezu poppig zu Werke. Anfänglich mögen seine Einsätze wie Brüche in der sonst häufig sehr kraftvollen Instrumentierung wirken , die nun plötzlich zurückgefahren wird. Recht schnell gliedern sich seine getragenen, irgendwo zwischen Pink Floyd, den Beatles und ruhigen Enslaved verankerten Vocals jedoch ins Gefüge ein. Und bleiben dazu noch haften.
Neben dem ehemaligen Opeth-Tastenmann begrüßen Anekdoten einen weiteren Gast. Steven Wilson-Flötist Theo Travis schaut vorbei. "If It All Comes Down To You" speist sich von Beginn an aus den sanften Harmonien seines Instruments. Zuerst hält er sich zwar noch im Hintergrund. Große Teile der zweiten Songhälfte nimmt jedoch Travis' Solospiel ein. Die Basis hält dabei keineswegs still, sondern bleibt in Bewegung. Speziell die Gitarre wandert beständig durch die verschiedenen Soundschichten und spielt sich immer wieder mit nach vorne. Der Abschluss-Lead gebührt ihr. So benutzt man einen Tremolohebel.
Auch im Titeltrack spielt die Flöte eine prägende Rolle. Mit dieser, den Akustikgitarren und vollem Synthesizerbacking ist "Until All The Ghosts Are Gone" dann auch die Nummer, die am ehesten an Steven Wilson erinnert. Mit knapp fünf Minuten der kürzeste Song des Albums, erzeugt sie mit ihrer elegischen Melodieführung Melancholie par excellence ohne ausufernd zu werden.
Ausuferndes Handeln könnte man dagegen "Get Out Alive" und vor allem "Writing On The Wall" sowie "Our Days Are Numbered" vorwerfen. Trotzdem möchte ich keine einzige Sekunde dieser Genialität missen. Das Outro in "Get Out Alive" mag zwar nicht gerade kurz sein, diesen Streicherharmonien könnte man aber vermutlich sogar auf Albumlänge lauschen. Zuvor gibt es noch ein - ebenfalls ziemlich ausführliches - nicht minder grandioses Solo im Mittelteil zu hören.
Selbst das toppen Anekdoten allerdings mit "Writing On The Wall", das mit transzendentalen Harmonien beginnt, bevor die Sologitarre nahezu die komplette zweite Hälfte des neunminütigen Tracks für sich beansprucht. Erst werden die mittleren Tonregionen abgegrast, gen Ende dringt Nicklas Barker in tiefere Lagen vor (der Höhepunkt seines gebotenen Spiels), nur um dann einen fließenden Wechsel nach ganz oben zu zelebrieren. Liljeströms scharf angezerrter Bass schneidet dabei immer wieder durch die Klangflächen.
Das abschließende Instrumentalstück "Our Days Are Numbered" fasst dann noch einmal alles zusammen. Die Passagen schwanken zwischen lauernd und zupackend, das Mellotron wabert in ungeraden Folgen gegen die Legatoriffs. Ins Rampenlicht darf als Erster Nicklas Barker. Neben exzessivem Whammy-Bar-Gebrauch fügt er diesmal orientalisch beeinflusste Skalen in sein Spiel ein.
Dieser bedient sich später ebenso Gustav Nygren (New Rose), der sich vier Minuten lang am Saxophon austobt. Das Schlagzeug klopft unerbittlich seinen Rhythmus, währenddessen driftet Nygren zwischen wehmütigem Jazz und Shining hin und her. Auch eine Bewerbung für die Monika Roscher Bigband könnte er einreichen.
Bis zum Schluss sparen Anekdoten nicht mit Überraschungen, glänzen mit perfekt und des Öfteren ungewöhnlich inszenierten Arrangements. Dabei steht "Until All The Ghosts Are Gone" klar in der Tradition der großen Prog-Bands der 70er und erhebt Anspruch auf Zeitlosigkeit. In Kreisen, die dieses Album zu hören bekommen, dürfte der Band diese sicher sein.
7 Kommentare mit 4 Antworten
Ist notiert. Danke.
"get out alive " glänzt schon mal.
wenn wir schon bei highlights jüngerer prog mucke sind: https://www.youtube.com/watch?v=WgC4Wwnl73w
würde ich eher bei Stoner Doom einordnen, trotzdem gut
"In Kreisen, die dieses Album zu hören bekommen, dürfte der Band diese sicher sein."
Gut hingehört Herr Berger.
Das vorliegende Album hat sicher seinen Platz im zeitlosen Schrank neben dem aktuellen Steven Wilson Album eingenommen. Eine Reihe unter dem allerdings, na gut das ist sicher Geschmackssache. Was aber der hörbare Unterschied aus meiner Sicht ist? Die Verbindung zwischen Emotion und Musik ist dem Herrn Wilson mit "Hand, Cannot, Erase" in zeitloser Perfektion gelungen. Das Album ist also Referenzklasse wenn es um dieses wichtige Detail geht.
Das Album hier hat wie geschrieben auch seine Emotionalen Momente gerade dann wenn es Poppig wird, aber halt nur Momente. Top 20 dieses Jahr, im Jahr 2099 spricht keiner mehr drüber. Das war dann auch genug Zeitlosigkeit.
Gruß Speedi
"im zeitlosen Schrank"
ich liebe dieses album.. stimme tonitasten zu, berührt ungemein und trotz der komplexität fließt alles ineinander, eine platte wie aus einem guss. und die melancholie ist genau richtig dosiert..
Ein Meisterwerk und Suchtmittel erster Güte, das zwar nach dem ersten Hören schon gut zündet, seine wahren Stärken aber erst in weiteren Durchläufen offenbart. Für mich mit das beste Album ihrer Laufbahn. Und zeitlos sowieso.
Naja, das Album ist zweifelsohne große Klasse und vereint alles was das Musikerherz höher schlagen lässt. Die Produktion indes lässt zu wünschen übrig. Leider gehen viele Details im Soundbrei ein wenig verloren und alles kommt etwas dumpf daher. Gerade so, als wollten Anekdoten Ihr Können in einem Karton vor allzu neugierigem Publikum verstecken. Schade eigentlich....