laut.de-Kritik

Üppige Retrospektive mit 74 Stücken auf fünf CDs.

Review von

Da hat sich jemand Mühe gegeben. Zweifellos. Fünf CDs mit insgesamt 74 Stücken und einer Länge von annähernd 400 Minuten, dazu ein 60-seitiges, bunt bebildertes Booklet, das in "Beatles Anthology"-Manier die Geschichte von Barclay James Harvest in zusammen gestückelten Interviews mit den Gründungsmitgliedern erzählt – da kann sich der Fan über eine geglückte Neuerscheinung pünktlich zum Weihnachtsfest 2005 freuen.

Chronologisch angeordnet, beschäftigt sich die Anthology vor allem mit den 70er Jahren. Die erste CD mit dem Titel "With Words And With Pen I Write..." beginnt mit "Early Morning", der ersten Single aus dem Jahr 1968. Getragene Orgeltöne, Mellotron-Geigenklänge und ein seichtes Schlagzeug begleiten eine hohe Stimme und Falsetto-Harmonien. Eine Kombination, die die Grundlage für einen guten Teil der Bandtätigkeit bildet.

Bis zum ersten Album "Barclay James Harvest" vergehen noch einmal zwei Jahre, in denen sich John Lees (Gitarre, Stimme), Les Holroyd (Bass, Stimme), Wolly Wolstenholme (Keyboards, Stimme) und Mel Pritchard (Schlagzeug) weiter entwickeln. Vor allem legen sie an Bombast zu, denn die orchestralen Klänge stammen nicht mehr aus schrankähnlichen Frühelektronikmonstern, sondern von Menschen aus Fleisch und Blut.

Es ist wohl der Erfolg von Bands wie Procol Harum oder King Crimson, die Band und Label zu diesem ökonomisch selbstmörderischen Schritt bewegen. BJH gelingt weder ein Hit noch eine deutliche Absetzung von ihren Konkurrenten. Mit meist gemächlichen Stücken erzeugen sie zwar eine entspannte Melancholie, begeben sich aber in ein Niemandsland zwischen Hitparade und anspruchsvolleren Gefilden à la Pink Floyd. Wie das größenwahnsinnige, zwölfminütige "Dark Now My Sky" beweist, das an "Echoes" erinnert, aber dessen Intensität nicht annähernd erreicht.

Erst der Wechsel der Plattenfirma und ein extensives Touren machen sie einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. "Round And Round Now We Go …" lautet der bezeichnende Titel der zweiten CD. Mit "Barclay James Harvest Live" gelingt ihnen 1974 ihr erster Eintritt in die Charts, was offenbar neue Kräfte freisetzt.

Den Höhenflug dokumentiert CD 3, "Miles Away In Endless Flight". Er erreicht seinen Höhepunkt 1977 mit dem Album "Gone To Earth", das mit "Hymn" das bekannteste Stück von BJH enthält. "Poor Man's Moody Blues" ist eine Abrechnung mit jenen Kritikern, die sie immer als lahme Nachahmer anderer Bands abgestempelt haben. Die Platte führt auch zum Durchbruch in Deutschland, wo sie sich in den folgenden Jahren großer Beliebtheit erfreuen.

Der Abgang von Keyboarder Wolly Wolstenholme 1979 stellt musikalisch einen harten Schlag dar, war er doch derjenige, der bei BJH einen gewissen künstlerischen Anspruch vertrat. Ohne ihn feiert die Band ironischerweise ihre erfolgreichste Phase, was an dem zu Beginn der 80er Jahre populären Keyboardsound liegen mag, dem sie nun auch verfallen. "Life Is For Living", 1980 ein größerer Hit in verschiedenen europäischen Ländern, ist eine grauenhafte Mischung aus "Cecilia" von Simon & Garfunkel und dem Tastenhorror, den auch Toto damals zuweilen fabrizierten.

CD 4 "Silver Drifting On High …" fasst diese Zeit ohne unnötiges Zögern zusammen, obwohl BJH in den 80er Jahren mit ihren Konzerten in West-Berlin 1980 und Ost-Berlin 1987 so etwas wie Musikgeschichte schreiben. Der Auftritt vor dem Reichstag ist mit "Nova Lepidoptera" und "Sip Of Wine" vertreten, der im Treptower Park komischerweise nicht. Die letzten zehn Stücke stammen aus den 90er Jahren, als die Band die Gunst des breiten Publikums längst verloren hat und sich wieder auf ihre Wurzeln besinnt.

Dass die Sammlung 1997 aufhört liegt nicht an der mangelnden Qualität der Aufnahmen in den darauf folgenden Jahren, sondern am Streit zwischen Holroyd und Lees, der zur Bildung zweier BJH-Nachfolger geführt hat. Schade eigentlich, gesellt sich Wolstenholme 1998 wieder zu Lees, während Pritchard bis zu seinem Tod 2004 mit Holroyd weitermacht. Um den Fan darüber hinweg zu trösten (und wahrscheinlich um gerichtliche Auseinandersetzungen zu vermeiden), legt die Band aber noch eine fünfte CD mit bislang unveröffentlichtem Material bei, darunter eine Liveversion von "Dark Now My Sky" von 1971, ein Demo von "Moonwater", das auch auf CD 2 in einem symphonischen Remix vorhanden ist, und "Love On The Line" von dem Reichstag-Konzert.

Wie sehr BJH in Vergessenheit geraten sind, beweist das abschließende Stück "Three Weeks To Despair", das im Heimatland England zum ersten Mal erscheint, da die dazugehörige Platte "River Of Dreams" (1997) nur in Deutschland und Österreich auf den Markt kam. Ob die üppige Sammlung "All Is Safely Gathered In" das Ruder noch einmal wenden kann, ist zu bezweifeln. Dem Fan bietet sie auf jeden Fall einen nett verpackten Überblick, der auch musikalisch weniger ruhmreiche Momente enthält. Dem neugierigen Neueinsteiger sei dagegen das Reinhören in "Barclay James Harvest" (1970) und "Barclay James Harvest And Other Stories" (1971) empfohlen.

Trackliste

CD 1

  1. 1. With Words And With Pen I Write (1968-71)

CD 2

  1. 1. Round And Round We Go (1971-75)

CD 3

  1. 1. Miles Away In Endless Flight (1975-79)

CD 4

  1. 1. Silver Drifting On High (1981-97)

CD 5

  1. 1. The Wheat And The Chaff (Rare Tracks)

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