laut.de-Kritik
Wenn man zu viel gutes Material hat ...
Review von Giuliano BenassiSeit Ende der 90er Jahre hat sich eine wahre Flut an Dylan-Material in den Markt ergossen. Angefangen bei "Time Out Of Mind" (1997), das der Barde selbst als Rückkehr aus der Versenkung bezeichnete, über weitere zwei Studioalben, die Veröffentlichung von Material aus dem Keller in der Bootleg-Serie, Kunstausstellungen, dem ersten Teil der Autobiografie, Martin Scorseses üppigem Dokumentarfilm "No Direction Home" und Todd Haynes' stargespickter Würdigung "I'm Not There". Von etwa 1000 Auftritten im Rahmen der "Neverending Tour" ganz zu schweigen.
Dennoch ist das Interesse kaum abgeflaut, wie das aktuelle Album zeigt, vollkommen zu Recht. Angefangen bei der Haptik: "Tell Tale Signs" liegt schön in der Hand, mit einem 62-seitigen Booklet, das die Bezeichnung "Büchlein" tatsächlich verdient hat. Die Scheiben sind den Hüllen von Tonbändern nachempfunden, von jeder Seite der Verpackung schaut Dylan einen mit seinem unergründlichen Blick in verschiedenen Lebensphasen an.
Die ruhige, slidige Gitarre des Openers "Mississippi" lässt ein entspanntes Album vermuten. Routiniert und meisterhaft nörgelt sich Dylan durchs Material, das aus einer Vielzahl an Sessions zwischen Ende der 80er Jahre und 2006 stammt. Darunter viele Stücke, die in alternativen Versionen auf den Alben "Oh Mercy" (1989), dem schon erwähnten "Time Out Of Mind" und "Modern Times" (2006) stammen.
Die Unterschiede zwischen den schon bekannten und den erst jetzt veröffentlichten Versionen zu analysieren, böte genug Stoff für eine Doktorarbeit. Informationen dazu finden sich zur Genüge im Booklet. Jedenfalls zeigt sich wieder einmal, dass Dylan sein Material sowohl textlich als auch musikalisch stets weiterentwickelt. Auf den Studioalben landet also nicht unbedingt der beste Take, sondern der, der dem Produzenten und Dylan in jenem Moment am besten gefällt. Ein Prozess, der Verluste fordert.
So stellt sich die Frage, warum das sensationelle "Red River Shore" seinen Weg auf "Time Out Of Mind" nicht gefunden hat, für das es entstand. "Reg dich nicht auf. Es ist nur ein Album. Ich habe bereits 30 davon aufgenommen", sagte Dylan in einem analogen Zusammenhang dem Journalisten Larry Sloman, der den lesenswerten Begleittext geschrieben hat. Sprich: Wenn man zu viel gutes Material hat, fliegt eben auch mal etwas raus. Oder wird recycled und erscheint verwandelt in einem folgenden Album, wie es mit mehreren Stücke dieser Sammlung geschehen ist.
Im Gegensatz zu den offiziellen Bootleg-Platten mit Material aus den 60er Jahren ist die Qualität der Aufnahmen durchgehend gut, sowohl was die Tonqualität als auch die Begleitmusiker betrifft. Lediglich bei manchen Livemitschnitten haben sich die Toningenieure zu stark ins Zeug gelegt. Aber das stört nicht weiter, wenn dabei Perlen wie "High Water", "Ring Them Bells" oder die Klassiker "Cocaine Blues" und "Miss The Mississippi" ans Tageslicht kommen. Als sensationell lassen sich Robert Johnsons "32-20 Blues" und das bluegrassige, mit Ralph Stanley aufgenommene "The Lonesome River" bezeichnen.
Ist die Serie damit zu Ende? Betrachtet man den Zeitraum, den sie umfasst, wahrscheinlich ja, doch die Tatsache, dass "Love And Theft" (2001) hier gar nicht vertreten ist, lässt eine Hintertür offen. Außerdem gibt es noch kein offizielles Zeugnis der "Neverending Tour", auch wenn so gut wie alle Auftritte von eifrigen Sammlern aufgezeichnet und ausgetauscht werden.
Außerdem sollen ja noch zwei Drittel der Autobiographie erscheinen. Dafür, dass er als ein Mensch gilt, der nicht viel von sich preisgibt, wissen wir über Dylan ziemlich viel. Das Faszinierende an seiner Person ist, dass wir immer noch mehr erfahren wollen.
2 Kommentare
"dylan nörgelt sich durchs material"
herrlich treffend gesagt, signore benassi
Also ich denke, da ist kein Hintertürchen mehr.
Mit Mississippi und High Water sind doch mindestens 2 Songs vertreten, die sich auf besagtem Album wiederfinden...
Die Rezension bewegt mich im übrigen doch zum Kauf dieser Collection