30. September 2017

"Es ist nichts falsch an nackten Frauen"

Interview geführt von

Verehrt und belächelt: Kaum eine Band spaltet die Szene so wie die britischen Black-Gothic-Symphonic-Irgendwas-Metaller aus England.

Das zwölfte Album "Cryptoriana - The Seductiveness Of Decay" steht in den Läden und ein Ende ist nicht in Sicht. Grund genug, sich mit Cradle Of Filth-Frontmann Dani Filth zu einem netten Plausch zu treffen. Der übernächtigte Bandleader empfängt mich im Flughafenhotel zu Düsseldorf, geplagt von einer fehlerhaften Klimaanlage in seinem Zimmer. Draußen dreißig Grad, drinnen fünfzehn, das kann auch einen gestandenen Metal-Veteranen schon mal um den Schlaf bringen.
Zum Glück ist der Mann Profi genug, um trotzdem ein Interview durchzustehen.

"Hammer Of The Witches" war kommerziell sehr erfolgreich. Habt ihr Druck verspürt, diesen Erfolg zu wiederholen?

Diesen Druck hast du immer. Wir haben sehr viel positives Feedback von den Fans bekommen und eine erfolgreiche Tour gespielt. Danach wechselten wir das Management. Mit unserer Managerin haben wir zwanzig Jahre lang zusammengearbeitet, sie war fast wie eine Mutter. Das neue Management wollte dann direkt seinen Stempel hinterlassen und mit neuen Ideen aufwarten, mehr Tourneen, diese oder jene Person loswerden. Und sie drängten auf ein neues Album.

Obwohl das letzte schon zwei Jahre auf dem Buckel hat, fühlte sich das für uns zu schnell an. Wir hatten zum Glück noch ein wenig Material vom letzten Album übrig. Dann sind wir nach Brno in die Tschechische Republik gefahren, wo Ashok und Martin herkommen. Das war eine Teambuilding-Woche, wir haben viel getrunken, uns Sehenswürdigkeiten angeschaut und unsere Ideen zusammen geworfen. Das war die Basis für ein neues Album.

Martin hat seine Schlagzeugparts kurz vor Weihnachten aufgenommen. Die übrig gebliebenen Songs vom letzten Album fühlten sich unterentwickelt an, also nahmen wir sie uns noch mal vor. "Achingly Beautiful" und "The Seductiveness Of Decay" haben dieses Mal einfach besser reingepasst. Der Grund, warum sich dieses Mal viele Textideen aus dem Viktorianischen Zeitalter auf der Platte befinden, ist folgender: Ich las zu dieser Zeit eine Menge Geistergeschichten aus dieser Ära, angefangen bei Sir Arthur Conan Doyle, über E.F. Benson hin zu Henry Rider Haggard. Das waren erfolgreiche Autoren und ihr Zeug ist sehr gut. Es dreht sich um das Makabre, um das Zerstechen des Schleiers und das Vordringen auf die andere Seite, Spiritualismus, Seáncen, das ganze Programm. Der romantische Aspekt dieser Zeit passt auch wunderbar zu den Inhalten von Cradle Of Filth.

Stammen die meisten deiner lyrischen Inspirationen aus der Literatur?

Das kommt von überall her. Manchmal kommt mir eine Idee beim Fernsehen oder beim Lesen. Und wenn ich draußen rumlaufe. Aber Literatur ist schon der stärkste Einfluss.

Ihr habt ja eine international besetzte Band, mit Mitgliedern aus der Tschechischen Republik, Schottland und Kanada. Wie kommen die Songs zustande, wenn alle irgendwo verstreut über den Globus leben?

Weil sie großartige Musiker sind. Das Level an technischen Fähigkeiten auf diesem Album ist beeindruckend. Ich kann das ohne Vorurteil sagen, weil ich viel mit Musikern herumhänge. Alle schreiben jeweils zwei, drei Songs und wir setzen alles zusammen. Ob die nun unverändert bleiben oder im Prozess auseinander genommen und verändert werden, spielt keine Rolle. Die Jungs sind sehr leidenschaftlich bei der Sache. Zum Glück leben wir nicht mehr im Zeitalter der Brieftaube, wir können uns Ideen per E-Mail schicken.

Wir haben jetzt ein paar Testshows gespielt, um zu sehen, wie alles funktioniert, neues Tourpersonal integriert, neues In-Ear-System auszuprobiert. Für die Woche in Brno hatten wir uns sehr gut vorbereitet. Eine Woche ist viel Zeit, wenn man viele Ideen hat. Zwei Wochen, bevor wir das Album abliefern sollten, kamen wir mit dem Song "Vengeful Spirit" nicht gut voran. Unser Produzent riet uns zu einer zusätzlichen Stimme und Liv Kristine kannten wir schon. Sie schickte ein paar Ideen rüber und wir erweiterten den Song. Alle waren glücklich. Wir versuchen damit nicht, "Nymphetamine" zu wiederholen, sondern verwenden ihre Stimme und deren Charakter in einem anderen Kontext. In "Nymphetamine" spielt sie die Verführerin, dieses Mal aber den rachsüchtigen Geist, einen Dämon.

Du hast gerade den Produzenten erwähnt. Wie viel Einfluss hat Scott Atkins auf eure Songs?

Sehr viel, deswegen kehren wir auch zu ihm zurück. Er kennt sich mit uns aus und weiß, wie weit er uns pushen kann. Er wohnt in derselben Gegend wie ich, arbeitet hart und die Leute kommen alle gut mit ihm aus. Außerdem hat er keine Angst, seine Meinung zu sagen. Wenn er glaubt, dass etwas nicht funktioniert, sagt er uns: Das ist scheiße, dieser Teil hier funktioniert nicht. Wir werden auch das nächste Album mit ihm aufnehmen. Jetzt könntest du einwenden, die nächste Platte würde dann vielleicht gleich klingen. Das wird sie nicht tun, denn es sind ja andere Songs drauf. Bei jedem neuen Album benutzt du andere Technologie. Oder auch weniger Technik, so wie dieses Mal, da haben wir einiges total oldschool aufgenommen.

Das höre ich in letzter Zeit öfter. Einige Bands finden scheinbar gerade altes Equipment hinten in der Ecke oder nehmen analog auf Band auf.

Wenn du ein gewisses Alter erreichst, fängst du an, in Erinnerungen zu schwelgen. Und du denkst: Unser bestes Material ist ohne dieses und jenes Gerät entstanden. Also warum versuchen wir das nicht noch mal? Setzen wir uns alle mal in einen Raum und lassen ein Aufnahmegerät mitlaufen. So haben wir das früher gemacht. Außerdem versuchen Bands vielleicht auch, ihre Jugend wiederzufinden und die Magie, die sie hatten, als die Welt ein einfacherer Ort war.

"Keine Mädels in Blumenkleidern, kein Bier"

Habt ihr auch beim Songwriting neue Ansätze ausprobiert?

Ich? Nein, ich bin ziemlich festgefahren in meiner Art, zu schreiben. Ich mag es, in meinem Büro oder irgendwo unter einem Baum zu sitzen. Dann höre ich mir gerne Soundtracks an und schreibe dabei. Ich liebe Soundtracks und würde gerne meinen eigenen schreiben, der mich ständig begleitet. Unsere Gitarristen sind aber anders rangegangen, sie haben mehr durchgespielt anstatt kleinere Teile zu editieren. Und irgendwelches neue musikalische Zeug, von dem ich keine Ahnung habe, haha. Mit dem Chor zu arbeiten ist auch immer wieder anders und neu. Wir wollten eine neue Atmosphäre, daher konzentrierten wir uns auf die Sopranistin. Sie sollte eine geisterhafte, gruselige Stimmung erschaffen, die wir dann mit den männlichen Stimmen unterstützt haben.

Das bringt mich zu der Frage, wer die Chor-Arrangements bei euch ausarbeitet.

Martin hat den Großteil davon arrangiert, ebenso wie die Orchesterpassagen. Eigentlich fast alles. Er ist sehr talentiert. Der Chor wurde in Brno aufgenommen, da kennt er sich natürlich gut aus und wusste auch, wo man was am besten machen kann. Schon allein in praktischer Hinsicht hat das Sinn ergeben.

Bist du zufrieden mit dem aktuellen Lineup der Band?

Ja, sehr. Stabile Verhältnisse bei Filth. Ich möchte gerne mit ihnen weitermachen und hoffe, dass sie auch mit mir weiterspielen wollen. Aber was sollte dagegen sprechen? Wir befinden uns in einer sehr kreativen und kommerziell erfolgreichen Phase der Band. Das neue Management ist auf eine Welttour fixiert, die sich an die Veröffentlichung anschließt. Acht Wochen ab Mitte Januar spielen wir in Europa, dann geht es in die USA, Australien, Japan, auf die Philippinen, Indonesien, Südamerika und wieder zurück für ein paar Festivals.

Klingt vernünftig. Das meiste Geld verdient man heute mit Live-Auftritten, nicht mehr über Albumverkäufe. Hast du dazu eine Meinung? Vermisst du die alten Zeiten?

Es gab Zeiten, da konnten wir es uns leisten, für zehn, zwölf Wochen in ein richtig teures Studio zu gehen. Die ganze Band hat dort gelebt. Das Ganze war fünf Mal so teuer wie unsere gegenwärtige Herangehensweise, das Ergebnis aber dasselbe. Heute bist du gezwungen, schneller fertig zu werden, aber unterm Strich ist es sogar besser so. Wenn alle zusammen rumhängen, wird viel gefeiert. Es gab Tage, wo einer nur gefragt hat: Pub? Und alle: Yeah! Dieses Mal war ich nie mit dem Produzenten im Pub. Außerdem ist das aktuelle Studio im Nirgendwo. Es ist erstaunlich, wie viel man zustande bekommen kann, wenn es keine Ablenkung gibt. Keine Mädels in Blumenkleidern, kein Bier. Es war harte Arbeit, aber wenn es das nicht wäre, würde es ja jeder machen.

Gab es mal einen Zeitpunkt, als ihr mit der Band ans Aufhören gedacht habt?

Das passiert sogar ständig. Der Stress ist nicht zu unterschätzen, all die Dinge, die die Leute nicht sehen, die tägliche Arbeit. Selbst wenn wir sagen, wir nehmen uns jetzt mal einen Monat frei, ist das nie ein wirklich freier Monat. Irgendwas kommt immer, seien es Pressetermine oder irgendwelche Business-Entscheidungen oder Überlegungen rund ums Merchandise. Es geht immer um Organisation und Vorausschau. Aber es ist ein toller Job.

Wenn ich richtig gezählt habe, ist das neue Album das zwölfte. Wo nehmt ihr noch die Motivation und Inspiration her?

Zum einen Notwendigkeit, zum anderen ist es mein Leben. Mein Büro ist so groß wie dieser Raum hier (Anm. d. Autors: ziemlich groß) und es gibt keinen Flecken, der nicht voll ist mit Figuren, kleinen Monstern oder unterschriebenen Originalkarten von Horrorfilmstars. Wunderbares Zeug findest du da, merkwürdigen Kram wie ausgestopfte Katzen auch. Mein Haus ist wie ein viktorianisches Museum. Diesen Teil meines Lebens kann ich nicht ein- und ausschalten, der gehört zu mir. Und es macht mir auch zu viel Spaß.

"Ich hatte nie einen normalen Job"

Da du die Horrorfilme erwähnt hast: Kannst du dir vorstellen, noch mal sowas wie "Cradle Of Fear" zu machen?

Würde ich gerne. Dieser Film hat sich so ergeben damals. Ich kannte ein paar Leute in der Filmindustrie, die gerade mit dem Studium fertig waren und eine Menge Freizeit hatten. Es fühlte sich einfach richtig an und alle arbeiteten zu geringeren Bezügen als üblich. Ich weiß nicht, ob das noch mal so passieren könnte. Viele von denen, die mit dabei waren, arbeiten inzwischen an größeren Filmen und haben sich etabliert. Das Mädchen aus dem Film, Emily Booth, ist seit zehn Jahren Moderatorin beim Horror Channel. Letztes Jahr hatte ich eine ganz kleine Rolle in einem Film, der nächstes Jahr erscheint. Das Teil ist super und lohnt sich, aber mein Anteil ist wirklich gering. Außerdem mache ich Voice-Overs für Zeichentricksachen. "Realm Of The Damned", eine Graphic-Novel-Adaption, das hat Spaß gemacht. Bald erscheint ein zweiter Band. Das heißt, ich darf zur Comic Con, darauf freu ich mich riesig.

Kannst ja 20 Dollar für ein Autogramm verlangen. William Shatner nimmt 50.

Stan Lee verlangt 80.

Alter!

Ja.

Vorhin hast du von deiner Liebe zu Soundtracks gesprochen. Würdest du sowas gerne mal selbst machen?

Ich habe vor hundert Jahren mal ein Stück mit Claudio Simonetti von Goblin aufgenommen, für einen Dario-Argento-Streifen. Im Film klingt der Mix leider schlecht, dabei hört er sich auf der Originalaufnahme brillant an. Aber das hat Spaß gemacht, ich bin ein großer Fan von Goblin.

Kehren wir zu Cradle Of Filth zurück. Über die Jahrzehnte habt ihr viele verschiedene musikalische Einflüsse aufgenommen. Wie entscheidet ihr, ob ein Song mehr Thrash- oder Black- oder Sonstwas-Anteile braucht?

Eigentlich gar nicht, das ergibt sich so. Wir nehmen das, was gut klingt. Was Dinge wie Länge und Atmosphäre angeht, treffen wir schon gezielte Entscheidungen, aber stilistisch gesehen lassen wir es einfach fließen. Einige Journalisten meinten, auf der neuen Platte wären mehr Elemente der New Wave Of British Heavy Metal zu hören, warum wir die eingebaut hätten. Ich finde, wir hatten die schon immer. Wenn man ehrlich ist, meinen die Leute mit diesem Vergleich doch immer Iron Maiden oder Judas Priest. Nie spricht einer von Angel Witch oder Holocaust.

Aber diese Doppelgitarren sind nichts Neues bei uns, die haben wir immer schon verwendet. Vielleicht treten sie jetzt deutlicher zutage, weil wir zwei hervorragende Gitarristen haben. Eigentlich drei, denn unser Bassist spielt ebenfalls E-Gitarre und schreibt auch dafür. Die bringen natürlich alle ihre Vorlieben mit, wühlen auch im Katalog rum und sagen: Diesen alten Cradle-Song sollten wir unbedingt mal wieder spielen.

Das neue Album hat schon wieder eine nackte Frau vorne drauf. Können wir uns jetzt auf eine Serie einstellen?

Es ist nichts falsch an nackten Frauen, es ist lediglich eine Stilistik. Ich habe dem Künstler freie Hand gelassen, da er schon das vorherige Artwork gestaltet hatte. Dann fand ich heraus, dass er auch Musikvideo-Regisseur ist. Sein Video für uns zu "Heartbreak And Séance" gefällt mir außerordentlich gut. Und von ihm stammte die Idee einer viktorianischen Venus auf dem Cover, womit wir ebenfalls auf ältere Alben anspielen. Das Ganze besitzt ein theatralisches Element, aber ich habe nie etwas wegen Nacktheit einzuwenden. Das Cover für die "Heartbreak And Séance"-Single sieht ähnlich aus, klassische Aktmalerei, Eros und Thanatos.

Hast du eine Meinung zu Spotify und Musikstreaming?

Ich mag das Praktische daran. Ich hab Amazon Music und streame schon mal was über meinen Fernseher, weil ich zu faul bin, eine Etage nach unten zu gehen und mir die CD zu holen. Das Entlohnungsmodell für Künstler lässt Musik leider zu einem Wegwerfartikel verkommen. Die Aufmerksamkeitsspanne der Leute wird immer geringer. Wenn ich mir eine CD kaufe und die ins Autoradio stecke, bleibt sie dort wochenlang drin. Ich kenne das Album anschließend bis ins kleinste Detail. Und genauso sollte es auch sein.

Eine letzte Frage: Siehst du dich als Überlebenden der Metalszene? Du musst über die Jahrzehnte doch viele Weggefährten an normale Alltagsjobs verloren haben.

Ich hatte nie einen normalen Job, ich habe Glück gehabt. Mit der Band hab ich schnell genug Geld verdient, um komfortabel leben zu können. Da habe ich viel Arbeit investiert und war lange Zeit von meiner Familie getrennt. Aber Überlebender? Ich weiß nicht. Ich kenne noch viele Leute aus der Szene von früher, Musiker von Opeth, Moonspell, Sepultura und Slayer. Oder auch Kreator. Viele haben überlebt und wir freuen uns alle, dass wir noch dabei sind und uns auch in privilegierter Position befinden.

Viele Kids heute denken, man müsste keine Arbeit mehr reinstecken, weil man zu Hause ein Album aufnehmen kann. Du wirst aber nicht über Nacht Arnold Schwarzenegger, ohne deine Muskeln zu trainieren. Wenn du eine erfolgreiche Band auf der Bühne siehst, kannst du sicher sein, dass sie hart dafür gearbeitet hat.

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