laut.de-Kritik
"Stop fucking smoking!" raunzt Boy George das unwürdige Publikum an.
Review von Giuliano Benassi"Stop fucking smoking! You don't talk during a ballad, you shut the fuck up!", raunzt Boy George sein Publikum an, als es sich zu Beginn der Ballade "Victims" seiner Meinung nach unwürdig verhält. Es ist einer der wenigen Momente, in dem der schillernde Frontmann beim Auftritt seiner Culture Club in London im Sommer 2002 eine Gefühlsregung unter der Schminke zeigt.
"Zwischen uns entsteht ein Zauber, und dieser Gig in der Royal Albert Hall hält ihn perfekt fest", schreibt er zwar im Booklet zu dieser DVD, doch seine Worte klingen eher wie Betörung als wie eine Tatsachenfeststellung. Zu routiniert singt er sich durch sein Material, zu selten trifft er die Noten. Dabei geben sich alle anderen Beteiligten sichtbar Mühe: Das zahlreich erschienene Publikum wie auch die Band, die neben der Urbesetzung Mike Craig (Bass), Roy Hay (Gitarre, Keyboard) und Jon Moss (Schlagzeug) aus weiteren acht Musikern besteht.
Die beste Darstellung liefert George beim Opener "Do You Really Want To Hurt Me", Culture Clubs erstem Hit von 1983, als er mit Hut, Haarverlängerung und schlanker Figur auf die Bühne tritt. "Soll er tatsächlich die Vierzig überschritten haben?" lautet die spontane Frage. Das Ende des Liedes führt zur Ernüchterung: Es handelt sich um einen Doppelgänger. Als George zu "Black Comedy/I'll Tumble For You" erscheint, können weder sein aufgeblasenes Kostüm im Schachmuster mit passendem Stachelhut noch die grelle Schminke die vergangenen Jahre weg retouchieren.
Das Publikum nimmt es gelassen und feiert fröhlich. Zu Culture Club-Stücken wie "It's A Miracle", "Gimme A Sign", Black Money" oder "Church Of The Poisoned Mind" gesellen sich Lieder aus Georges Solozeit, darunter sein Hit "Everything I Own" und das abschließende "Bow Down Mister". Mit "Starman" liefert er zudem eine Hommage an sein großes Vorbild David Bowie ab. Bezeichnenderweise erreicht die Darstellung ihren musikalischen Höhepunkt, als Lynn Paul alleine "Talk Amongst Yourself" anstimmt – ohne den Sänger, der die Gelegenheit nutzt, um sich umzuziehen.
Das wenig gelungene Konzert wertet die aufwendig gestaltete DVD mit Zusatzmaterial auf. Neben Fanbeiträgen besteht es aus einer von George geschriebenen Biografie, die aber im Booklet einfacher zu lesen ist, und zwei längeren Interviews. Im ersten tritt George grün geschminkt und mit roten Punkten im Gesicht auf – und lässt die Gelegenheit nicht aus, Werbung für sein Musical "Taboo" zu machen. Schon interessanter ist das Gespräch mit Moss, der offen über seine Beziehung mit George redet und auch den damit verbundenen Untergang der Band schildert, nachdem sie zu Bruch ging. Der Schlagzeuger macht einen zufriedenen Eindruck, obwohl er seit Ende der 80er Jahre mit Ausnahme einer Reunion-Tour von der Bildfläche so gut wie verschwunden ist.
Er ist immer noch glücklich, "Karma Chameleon" zu spielen, erzählt er, "ein Lied, das wir zu hassen lieben". Von Liebe ist in Georges Stimme keine Spur, als er es in der Zugabe anstimmt. Schade eigentlich, denn mit ihrer Mischung aus Reggae, Pop, buntem Outfit und ihrem Engagement für Schwule haben Culture Club die 80er Jahre besser überstanden als die meisten ihrer Kollegen.
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