laut.de-Kritik

Bewusstseinserweitert wie eine BWL-Party.

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Wellen wogen geräuschvoll. Ein hölzernes Schiff schiebt sich knarrend durch die Brandung. Wenige Augenblicke später erschallen Tröten und Trommeln. Die ersten Sekunden auf "Dionysus" sollen die Ankunft des gleichnamigen Gottes signalisieren. Tatsächlich illustrieren sie den Niedergang der Dead Can Dance.

Mit Pauken und Trompeten versenkt sich die das alte Schlachtschiff gehobener Weltmusik auf den Meeresgrund. Was aus der Gischt auftaucht, ist kaum mehr als ein Schatten ihrer selbst. Erstmals klafft eine Schlucht vom Ausmaße des Grand Canyons zwischen Theorie und Umsetzung.

Dabei klingt der Plan auf dem Papier so narrensicher. Brendan Perrys Vorhaben besteht in der Umsetzung des archaischen Dionysos-Kults: Der Sohn des Zeus gibt dafür eine Menge her. Als Gott des Weines, des Wahnsinns, der Befreiung und der Ekstase bietet er viele Facetten und eine ereignisreiche Story.

Wie den berühmten Faden der Ariadne, ihres Zeichens Braut von Dionysos, reiht Perry Symbol an Symbol und zeichnet damit essentielle Kernpunkte in Dionysos' Werdegang nach. Dabei bedient er sich der Form eines zweiaktigen Oratoriums. Jeder Akt besteht aus einer mehrteiligen Suite, deren einzelne Gliedmaßen hohen Bedeutungsgehalt aufweisen.

So steht "The Mountain" für Dionysos' Geburtsstätte, den Berg Nysa. "Dance Of The Bacchantes" hingegen interpretiert ein uraltes Ritual der Verehrung, bei dem die Gemeinschaft halluzinogener Trance anheim fällt.

Perry komponiert und arrangiert den Klangkörper als betont archaischen Reigen. Hierzu fährt er eine ganze Wagenladung exotischer Instrumente auf und setzt das Ensemble gewohnt filigran in Szene. Neben persischen Rahmentrommeln oder slowakischen Hirtenflöten nutzt er Naturgeräusche wie Vogelstimmen, summende Bienen oder blökende Schafe. Sie dienen der Referenz an einen bewusstseinserweiterten Zustand, der ganzheitlich mit der Natur im Einklang lebt.

Bewusst addiert er Faktoren, die auf hinduistische Überzeugungen verweisen. Schlussendlich darf der Hörer laut Perry den erleuchteten Zustand selbst erstreben und sich wenigstens vorübergehend irdischer Zwänge enthoben fühlen. Diese Leitbildfunktion bildet ein Hauptmotiv der Platte.

Wer nunmehr den Eindruck bekommt, dies alles klinge eher nach einem Soloalbum Perrys als nach glorreichen Zeiten musikalischer Partnerschaft auf Augenhöhe, liegt bedauerlicherweise richtig. Lisa Gerrard verkommt auf den gerade einmal 36 Minuten zur bloßen Staffage. Ihre große Stärke, aus dem Hintergrund ein instrumentales Geflecht zu erobern und zu durchströmen (wie einst bei "Within The Realm Of A Dying Sun"), degradieren DCD weithin zur Nebenrolle einer besseren Backgroundsängerin.

Das wäre akzeptabel, sofern die Methode im Dienste großer Musik stünde. Die Wahrheit fällt indes ernüchternd aus. Es gibt weit und breit kein einziges Stück, dass auch nur entfernt an des Duos songwriterische wie melodische Stärken anknüpft. Glanzlichter des Levels "Cantara", "De Profundis", "Xavier" oder "Host Of The Seraphim" sucht man vergebens. Verglichen mit ihrer Frühphase als Miterfinder sphärischen Heavenly Voices-Gothics oder der späteren Inkarnation als Ikone exquisiter Weltmusik, wirken die schwächsten Momente des "Dionysus" wie ein groteskes Zerrbild des eigenen Werks.

Zwar erweisen sich Produktion und Sound einmal mehr als herausragend. Doch gerade diese Ästhetik unterstreicht des Albums substanzielle Leere umso deutlicher. "Sea Borne" hätte als kurzes Intro funktioniert. Stattdessen kündigt es in zäher Überlänge Spannung an, die das folgende "Liberator Of Minds" nicht entfernt einlöst. Letzteres blendet mit stereotypen Orientalismen aus der Ethno-Grabbelkiste auf und kredenzt dazu ein Thema, das klingt wie bei Tangerine Dream aus dem Papierkorb gefischt.

Wer den blutarme "Whoa"-Alibigesang mit Recht für unwürdig hält, erlebt im nachfolgenden "Dance Of The Bacchantes" den absoluten Tiefpunkt. Hier stürzt die eben noch wankende Göttin endgültig vom Sockel. Das Stück versagt in doppelter Hinsicht. Das Lieschen verliert jedes Charisma in erschreckend konventioneller Mischung aus Indianergeheul und Weltmusik-Klischee.

Instrumental bremst Perry die postulierte Ekstase unnötig aus und wirkt dabei so bewusstseinserweitert wie eine BWL-Party. Wer hingegen echte religiöse Hingabe als popkulturelles Erlebnis genießen möchte, halte sich weiterhin an die seit 50 Jahren ungeschlagene Voodoo-Orgie von Dr. Johns Meilenstein "Gris-Gris".

"The Mountain" eröffnet den zweiten Akt als immerhin passables Stück auf den Level einer soliden B-Seite. Auf "The Invocation" läuft zumindest Perrys hypnotisches Grundthema zu alter Form auf. Es böte die Chance zum Auftrumpfen der anmutigen Templerin in Gerrard. Stattdessen legen die beiden das Arrangement der Stimme als überkommenen Wiedergänger kitschigsten Ethnopops Marke "Adiemus" an.

Die Zielgerade bietet nichts Versöhnliches. Zunächst brabbelt Perry auf esoterisch getrimmte Kinderliedhaftigkeit, bevor das Schlafmittel "Psychopomps" den Hörer endgültig ins Koma verfrachtet. Wenn es nach der miesen Stimmung ihrer letzten Tour eines stichhaltigen Beweises dafür bedurfte, dass Gerrard und Perry einander jenseits von Markenerhaltung nichts mehr zu sagen haben, ist es dieses in jeder Hinsicht unausgegorene Album.

Trackliste

  1. 1. Act I – Sea Borne
  2. 2. Act I – Liberator of Minds
  3. 3. Act I – Dance of the Bacchantes
  4. 4. Act II – The Mountain
  5. 5. Act II – The Invocation
  6. 6. Act II – The Forest
  7. 7. Act II – Psychopomp

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4 Kommentare mit einer Antwort

  • Vor 6 Jahren

    Dieser Kommentar wurde vor 6 Jahren durch den Autor entfernt.

  • Vor 6 Jahren

    Finde gerade, dass hier der songwriterische Einfluss von Gerrard wieder vermehrt zum Tragen kommt, etwa das Perkussiv-rhythmische von "Hiraeth" oder die Mystik von ihrer Bulgarian Voices-Kollabo (die man auf dem Werk auch kurz hört). Sonst vermisse ich auf der Platte auch sowas wie Stringenz, aber in der Mitte finden sich doch einige gelungene Songs wie "The Mountain" und "The Invocation". Nicht der Abgesang, den ich befürchtet habe. Muss mir die Platte aber noch paar mal geben, um ein abschließendes Urteil zu fällen.

  • Vor 6 Jahren

    Dieses Album wirkt auf mich, als hätte Perry 95% davon alleine produziert. Dann kam Gerrard kurz ins Studio gerauscht, hat einmal kurz über zwei oder drei Tracks drübergesungen und ist dann wieder verschwunden. An dem Album findet sich nirgendwo Gerrards charakteristische Handschrift. Selbst die Studio-Backgroundsängerin hat mehr Anteile am Gesang als Gerard. Sechs Jahre warten und dann sowas... das ist traurig.

  • Vor 6 Jahren

    Interessante Rezi, aber ein Kritiker muss ja auch gewisse Rechte haben. Die internationalen Kritiken zu diesem Album fallen weitaus positiver aus als die aus dem deutschsprachigen Raum, was sagt uns das?