laut.de-Kritik

Facettenreich tritt er aus Seeeds Schatten.

Review von

Frank Allessa Dellé trat bisher meist nur als einer von drei Sängern der Dancehall-Veteranen Seeed in Erscheinung. Gut, 2009 debütierte er mit "Before I Grow Old" bereits als Solo-Künstler. Der Erfolg dieses Ausflugs blieb jedoch bescheiden. Zu vieles auf der Platte erinnerte an Seeed, zu schnell ebbte das Interesse der Öffentlichkeit am mittlerweile 46-jährigen Berliner ab. Einer weiteren Platte mit seiner elfköpfigen Haus- und Hofkapelle folgt nun "Neo", das schwierige zweite Album, bei dem es darum geht, sich in der Szene dauerhaft zu etablieren.

'Alles neu' bei Dellé, könnte man anhand des Titels nun also meinen. Ein Schelm wer dabei an die Debütsingle von Pierre Baigorry aus dem Jahr 2008 denkt. Und tatsächlich drängen sich nach einem ersten Hördurchgang mehrere Seeed-Anleihen auf. Man kann seiner Vergangenheit eben nicht entfliehen. Die Frage ist nur, wie man damit umgeht.

"Neo" beginnt zugegebenermaßen schwach. Der bocklangweilige Opener "Teach Me" baut sich über 3,48 min Spielzeit verheißungsvoll auf, um dann aber nie wirklich einzuschlagen. Keine Ecken, keine Kanten, nichts, an dem man sich festhalten könnte. Da helfen auch die Streicher aus dem wunderbaren "Aufstehen" mit Cee-Lo Green nicht.

Dann aber bekommt der in Ghana geborene Dellé mit "Tic Toc" endlich einen Fuß in die Tür. Der Titel fasziniert, ja begeistert sogar. Gentleman als Feature-Gast harmoniert auf dem schnellen und durchaus radiotauglichen, an "Sekundenschlaf" von Marteria und Peter Fox angelehnten Song perfekt. Kraftvoll setzen die beiden Sänger ihre Stimmen zum elektronisch angehauchten Riddim ein und verhelfen so "Tic Toc" zu einer wohl nicht zu geringen Halbwertszeit in der deutschen Musiklandschaft.

Dieser elektronische Einschlag wird bei "Tell Me Who You Are" noch deutlicher: Der wabernde, ja fast düstere Klang wirkt hypnotisierend und meistert den schmalen Grat zwischen einschläfernd und Gänsehaut perfekt. "Light Your Fire" treibt diesen Umstand sogar auf die Spitze: Der stärkste Song des Albums vereint markante Lyriks mit einer treffenden musikalischen Ausarbeitung. Auf einem leicht poppigen, dennoch mächtig facettenreichen Grundgerüst platziert Dellé Verse über religiös motivierten Terror, über die diesem entgegengestellte Friedensbewegung und über die Frage nach der Legitimation dieser vermeintlich glaubensmotivierten Gräueltaten: "Fighting for the Bible by the gun / why that? / In the name of the Koran blow a bomb / why that? / Abusing your religion / excusing terrorism / that's wrong!"

In "Please Apologize" zeigt sich allerdings das große Dilemma der neuen LP: Trotz beißender Gitarrenanschläge und trabender Bassline stellt sich kein bleibendes Hörerlebnis ein. Das in den Versen durchgängig hohe Niveau kann der Refrain dann oft nicht halten. Bei zu vielen Titeln auf "Neo" setzt sich eben dieser zu wenig vom Rest des Songs ab.

Zu selten werden markante Grenzen gesetzt, weshalb man dazu neigt, auch beim zweiten und dritten Hördurchlauf nie so richtig zu wissen, wo auf der Platte man sich gerade eigentlich befindet - da hilft auch Kollege Boundzound auf "How Do You Do" nicht. Lediglich das gefühlvolle, reggaelastige "Marry Me" und das auf einer wahren Begebenheit beruhende "Take Your Medicine" brechen aus diesem Kreis aus.

Musikalisch und lyrisch beweist Dellé mit seiner zweiten Soloplatte unter der Leitung von Produzent Guido Craveiro dennoch überwiegend wirkliches Geschick. Er schafft sich mit "Neo" tatsächlich seine eigene Welt, findet so zu seinem eigenen Stil. Damit emanzipert er sich als eigenständiger Künstler und tritt endlich aus Seeeds Schatten. Und das ist auch gut so.

Trackliste

  1. 1. Teach Me
  2. 2. Tic Toc
  3. 3. Tell Me Who You Are
  4. 4. Please Apologize
  5. 5. Marry Me
  6. 6. Light Your Fire
  7. 7. Sleepy Hollow
  8. 8. Take Your Medicine
  9. 9. Trisomy 21
  10. 10. How Do You Do
  11. 11. Why Did You Lie

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