laut.de-Kritik

Krach, Pathos und säurehaltiger Bunkertechno.

Review von

Vor ein paar Jahren war ich auf einem Gewalt-Gig in der Diskothek des Schauspiels Leipzig (Eintritt aus irgendwelchen Gründen frei und einem geschenkten Gaul und so) und nach vielleicht zwei Dritteln des Sets amüsierter Zeuge davon, wie Patrick Wagner lautstark von einem Bildungsbürger im Publikum angepöbelt wurde. Bis dahin hatte es auf der Bühne ganz gut gebumst, die Krachwand war dick, drei Menschen standen ästhetisch im von Stroboblitzen erhellten Raum herum und verzogen keine Miene, alles so, wie ich das von einer Band erwartete, die sich Gewalt nennt – gleichzeitig konnte ich nicht ganz nachvollziehen, worüber sich das Männlein eigentlich so furchtbar aufgeregt hat. So provokant war das alles doch nicht.

Soviel vorab, Gewalt sind auch mit "Doppeldenk" noch nicht da, wo ich sie gerne hätte – aber wir kommen der Sache immer näher. Die Band fängt gerade erst an, ihr volles Potential auszuschöpfen. Die Band heißt Gewalt und der Albumtitel verweist auf George Orwells 1984, eines der am öftesten beschworenen und am wenigsten gelesenen Bücher der letzten 100 Jahre – hier werden diskursiv große Geschütze aufgefahren. Wenn es eins gibt, was mich noch mehr ankotzt als das verlogene Wort Diskurs an sich, dann ist das deutscher Diskursrock.

Zum Glück ist "Doppeldenk" keiner, dafür macht das Album zu viel Spaß und ist auch einfach ein bisschen zu gut. Was mich an "Doppeldenk" am meisten stört und freut, ist, dass ich über weite Strecken diesen akustischen Schatten im Ohr habe, den eine Version von Gewalt wirft, die es auf "Doppeldenk" noch gar nicht gibt. Man hört das Bemühen darum, zu einem veränderten Sound zu finden, ohne die Stärken der Band aufzugeben. Laut Pressetext war der nach einer ereignis- und fruchtlosen Studiosession in Gitarristin Helen Henfling wuchernde Hass auf "Gitarrenmusik" ausschlaggebend für die elektronischere Richtung, die das Album einschlägt (wobei mich dieser Begriff auch immer ein bisschen ratlos zurücklässt, das könnte Paco de Lucía meinen oder Mando Diao oder irgendwas dazwischen, aber ich weiß schon, was gemeint ist).

Gut so! Gewalt waren schon immer drei Menschen plus die Maschine, aber sie klangen noch nie so sehr nach säurehaltigem Bunkertechno wie auf "Schwarz Schwarz". Das klingt, als hätte ein musikalisch veranlagter Troll mit einer großen Metallstange einen Wutanfall auf dem Schrottplatz, gleichzeitig ist es auf zackige Weise ungemein groovy, tanzbar, sexy, cool. Die Lyrics kommen geschickt ums Eck, ambivalent genug, um kein Diskursgewichse zu sein, präzise genug, dass ich den Menschen, um den es geht, sehr klar vor mir sehe: "Ich denk wie mit 8 und fühl wie mit 12 / alles wird anders / ich immer gleich / gib mir einen neuen Körper / meiner zerfällt."

Dieses Niveau halten sie nicht durchgehend. "Egal Wohin der Wind Dich Weht" klingt wie die B-Seite von "Schwarz Schwarz", derselbe Song nochmal in weniger gut. Der nette lyrische Twist ("Halt dich an deiner Lüge fest") kann nicht darüber hinwegtäuschen, das hier der zündende Einfall gefehlt hat. Ist halt ein weiterer Gewalt-Song. "Das Kann Ich Nicht" klingt, als hätten sie eine gute Idee für eine Minute Interlude gehabt, und das dann auf Songlänge ausgedehnt.

"Alle Analysten sind im Haus / alle Rassisten sind im Haus / alle User sind im Haus / alle Call Center sind im Haus", so geht das noch eine ganze Weile weiter (ich werde auf der anstehenden Tour jeden Abend mit wechselnden falschen Bärten anwesend sein und sehr genau beobachten, ob Patrick Wagner damit irgendeine alberne Mitmach-Scheiße veranstaltet, gegebenenfalls werden Kollege Schuh und ich dann beraten müssen, ob wir ihn offiziell "nicht mehr cool" nennen). Unterdessen nicht im Haus: Der Drang und der Zug nach vorne, die Musik sumpft vor sich hin.

Am stärksten höre ich das Versprechen einer Musik, die so noch nicht da ist, auf "Ein Sonnensturm Tobt Über Uns". Ich finde das absolut cool, dass sie einen melodisch-melancholischen Tanz-Track über Sex und Liebe gemacht haben, denn das ist schon recht weit außerhalb der bisherigen kreativen Komfortzone. Jasmin Rilkes Bass läuft sich auf verspielten Bahnen frei, aber die letzten 10 Prozent, der ganz große melodische Moment, die sind hier einfach noch nicht da. Ich will diese Mischung aus Hot Chip und Einstürzende Neubauten, ich will diese Art von Gewalt! Ich brauche sie! Aber das hier ist sie noch nicht.

Es hilft außerdem nicht, dass sich Wagner die Art von Gesang, die hier kommen müsste, dann doch nicht traut, und sich stattdessen auf Gemurmel verlegt (machs halt wie Julian Casablancas und klatsch Autotune drauf, Helen wird das schon regeln, dass das geil klingt). Der Rest des Albums ist ziemlich bombe: Noch weiter in die Gruftdisko als "Schwarz Schwarz" lehnen sich "Felicita" und "Jemand", ersterer die Joy Divison-, zweiterer die New Order-Variante des selben Spiels. Vor allem "Jemand", für mich klarer Höhepunkt des Albums, peitscht mechanisch nach vorn wie nichts Gutes und bringt gleichzeitig eine Leichtfüßigkeit mit, die dem Sound der Band normalerweise abgeht. Hier kommt Patrick außerdem richtig cool, ein Hauch Falco und Wiener Lakonie schwingt in seinem Vortrag mit: "Jemand zählt die Schritte / warum tut er das", "Jemand isst / bricht / isst / bricht / isst / bricht". Das würde fantastisch als Anheizer im Club funktionieren und beweist, dass man die schärfsten, pointiertesten Gedanken hat, wenn möglichst laute Musik läuft. Wir wollen mehr von sowas.

Ebenfalls schwere Gothic-Vibes verströmt "Hier Wo Du Strahlst", der dringend überfällige Partynacht-Storyteller einer Band, die man sich eh unmöglich anders vorstellen kann als Kette rauchend in einer szenigen Kaschemme. Eine gewisse Affinität zu barockem Schwulst und Pathos ist bei Zeilen wie "Hier wo die Säfte sprudeln / wo das kostbare Weiße taube Hirne besudelt" sicherlich von Vorteil, aber wer die nicht mitbringt, wird mit der Band eh nicht so viel anfangen können.

"Trans" geht in der Sache und Musik unmissverständlich nach vorne, der stärkste Grower des Albums ist für mich "Monolog Einer Drohne". Das ist im Gegensatz zu vielem anderen auf dem Album kein Song, den ich gerne in Gesellschaft hören möchte, es ist mehr ein äußerst beklemmendes Hörspiel. So kann man politische Musik machen, direkt, schnörkellos: "Töte / nach Protokoll". Wer nach diesem Song mehr darüber wissen will, wie automatisierter Massenmord funktioniert, der Opfer wie Täter gleichermaßen effizient entmenschlicht, kann in der Suchmaschine der Wahl nach "Lavender Gaza" suchen.

"Doppeldenk" endet mit "Ne Ne Alles Gut" und einer, Obacht, hört hört, Akustikgitarre. Noch so ein neuer Weg, den sich die Band erschließt, den sie noch nicht zu Ende gegangen ist und das hoffentlich in Zukunft tun wird. Nachdem das Album verklungen ist, muss ich wie so oft in letzter Zeit an den hässlichen Menschenfeind aus dem Sauerland denken, der, wenn alles so schlecht läuft wie zu erwarten ist, ab nächstem Jahr den Laden schmeißen wird. Mit Laden meine ich Deutschland und unter schmeißen verstehe ich unter anderem die drohende Durchsetzung einer kulturellen Hegemonie der freudlosen deutschen Arschgeigen, der Kunstfeinde, der Reihenhaus- und sonstigen Faschisten.

Ich verstehe mittlerweile besser, was das Männlein damals vor der Bühne so gestört hat: Gewalt stehen für mich für eine Version dieses Landes, die es zu bewahren gilt, bisschen verschroben, bisschen drüber, die Clubs haben 48 Stunden am Stück geöffnet, exzentrisch, laut, pathetisch, verliebt in die Kunst und alles, was anders ist. Demnächst sogar auch als sweeter Lovesong, wenn Patrick sich traut, lieblich zu singen. Das ist er uns schuldig.

Trackliste

  1. 1. Schwarz Schwarz
  2. 2. Egal Wohin der Wind Dich Weht
  3. 3. Felicita
  4. 4. Das Kann Ich Nicht
  5. 5. Ein Sonnensturm Tobt Über Uns
  6. 6. Hier Wo Du Strahlst
  7. 7. Jemand
  8. 8. Monolog Einer Drohne
  9. 9. Trans
  10. 10. Ne Ne Alles Gut

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5 Kommentare mit 3 Antworten

  • Vor einem Monat

    Dieser Kommentar wurde vor einem Monat durch den Autor entfernt.

  • Vor einem Monat

    Schier unmöglich, dieser Gewalt als aufgeschlossener Teilnehmer der deutschsprachigen Nischenkulturszene noch irgendwo oder -wie zu entrinnen! Aber fein, feines Feuerwerk, was Kay hier trotz formidabel hergeleitetem fehlenden Sternchen in der Rezession abbrennt, überraschend immersiv - beinahe, als säße mensch in der Redaktionsküche zufällig gerade am Kaffeetisch dabei. Und dem Patrick gönne ich den zweiten musikalischen Frühling, der sich auf dieser Platte hörbar zum hormontreibenden Frühsommer fortentwickelt, nicht zuletzt seit seiner offenherzigen Teilnahme bei einer Ausgabe der FUCKUP NIGHTS BERLIN absolut bedingungslos und trotz auch heute noch jährlich häufigerem "(Surrogat) On Top" auf meinem heimischen Plattenteller.

    Fühle mich in der großartigen Climax-Formulierung "Versprechen einer Musik, die so noch nicht da ist" auch perfekt bei meinem eigenem zu dieser Platte überwiegenden Gefühl abgeholt, mitgenommen und versuche nun, das Album im Schatten einer individuell antizipierten Zukunftsversion dieser Gewalt gedeihen zu lassen... (sowie dieses aus deiner Rezi destillierte Sprachbild ggf. für den unauffälligen gelegentlichen Gebrauch im erweitertem Freundes- und Bekanntenkreis zu klemmen... :whiz: )

  • Vor einem Monat

    nicht mehr als 3 Wörter in einem Stück die Botschaft ist klar pass auf was du trinkst bevor du Holzhacken gehst. like it.

  • Vor einem Monat

    "Wer nach diesem Song mehr darüber wissen will, wie automatisierter Massenmord funktioniert, der Opfer wie Täter gleichermaßen effizient entmenschlicht, kann in der Suchmaschine der Wahl nach "Lavender Gaza" suchen."

    Hat mir die ansonsten tolle Rezi leider ziemlich versalzen. :/

    • Vor einem Monat

      Wegen des Seitenverweises auf den Gaza-Konflikt vor dessen Ausmaße man sich gerne versteckt? Ich habe zugegeben auch in letzter Zeit häufiger die Nachrichten aus/ -umgeschaltet.

      Den inhaltlichen Kern, dass die Menschheit also schon an dem Punkt angelangt ist, dass eine "KI" im Krieg die zu vernichtenden Ziele auswählt, empfinde ich persönlich zwar unangenehm logisch aber auch tief verstörend.
      Auf diese Auswüchse der "Boring Dystopia" gerade auch im Pop/Kultur-Bereich Bezug zu nehmen finde ich sehr wichtig und auch richtig.
      Von daher ist diese Passage viel mehr das Salz in der Suppe!
      Also sei doch nicht so Salty Bro!

    • Vor einem Monat

      Nee, nicht wegen politischer Verweise an sich. Ich meinte eher speziell die Nennung von Lavender in dem Kontext. Dass es sich dabei um ein KI-System handelt, das Ziele ausspuckt, und diese dann annähernd ungeprüft übernommen werden ist eine unbestätigte Meldung, die von namenlosen Leuten (angeblich Mitglieder der IDF) erhoben wurden. Die IDF selber behauptet ganz was anderes.
      https://www.idf.il/210062

      In Kriegen wird meistens von allen beteiligten Seiten mit Propaganda gearbeitet, und man sollte vorsichtig sein, welche Behauptungen und Anschuldigungen man ungeprüft übernimmt.
      Ohne in diesem Fall hier die Wahrheit zu kennen, klingt die IDF-Erklärung für mich erst einmal plausibler als der eine Artikel im +972-Magazin (der dann überall aufgegriffe wurde); zumindest ist es die Erklärung einer Quelle, die, wenn sich die Wogen einmal glätten sollten, einer gewissen Überprüfbarkeit ausgesetzt ist, da sich Israel grundsätzlich zur Rechtsstaatlichkeit bekennt.

    • Vor einem Monat

      Guter Punkt. Die ursprüngliche Quelle dieser Meldung habe ich bislang nicht geprüft, da habe ich ein Stück weit auf die übernehmenden Medien verlassen. Zumal der Einsatz von "KI" gerade von den Isrealis aber wenig überraschend und logisch für mich ist. Damit konfrontiert zu werden ist dann der verstörende Moment.
      Ein Dementi der isrealischen Streitkräfte halte ich dagegen aber für wenig relevant :)