laut.de-Kritik

Der beste Storyteller, den wir gerade haben.

Review von

"Mein Name: Moritz Anton Wilken", eröffnet Grim104 mit einer artigen Vorstellung, und schließt zehn Tracks später kaum weniger klassisch: "Liebe Grüße, euer Grimmi." Diese beiden, die erste und die letzte Zeile, genügen im Grunde, um Schlimmstes zu ahnen: "Imperium" scheint in diese Kategorie zu fallen, die Pressetexte gerne als "des Künstlers persönlichstes Album" anpreisen. Hilfe.

Wer auf den unnahbar durchgeknallten Grim104 aus dem Froschteich seiner Anfangstage hofft, auf die stinkwütende, alles abfackelnde eine Hälfte von Zugezogen Maskulin, den Grafen im Vampirkostüm oder sonst ein konstruiertes Bühnen-Alter-Ego, schaut diesmal gediegen in die Röhre. So ganz hat Grim den Wahnsinn aus seiner überschnappenden Stimme zwar nicht getilgt. Er hat ihn inzwischen jedoch um Welten besser unter Kontrolle.

In seinem Leben muss einiges passiert sein, anderenfalls wäre ihm kaum ein solches Album gelungen. Es klingt wirklich furchtbar, es niederzuschreiben, aber "Imperium" IST tatsächlich das Persönlichste, das dieser Mann bisher vom Stapel ließ. Befreit von inzwischen offenbar unnötiger Maskerade nähert sich Grim104 dem Kern seiner selbst und dem, was er zu sagen hat, dichter an als je zuvor und reiht dabei einen Gänsehautmoment an den nächsten. Dabei hätte die Suche nach einer Antwort auf die zentrale Frage "Wo geh' ich hin, wo geht es hin?" irre leicht in narzisstischer Rotation um den eigenen Bauchnabel enden können, und der Rückblick auf vergangene Tage in weinerlich-sentimentalem Klammern an Gestrigkeiten.

Nichts davon passiert. Obwohl keineswegs frei von Nostalgie wirft Grim einen recht nüchternen Blick auf sein Leben. Er lässt Revue passieren, was seine Kindheit und frühe Jugend prägte: seine Faszination für den Katholizismus, für MTV und, ja, auch für "Bam Margera". Freimütig beichtet er da seinen Jugendtraum: "Uns war klar, dass wir Rapstars werden." Ein bisschen Verwunderung darüber, den tatsächlich verwirklicht zu haben, während andere auf der Strecke blieben, klingt noch durch, und Grim versteigt sich da auch gar nicht in übertriebene Selbstzufriedenheit: "Viele haben das nicht geschafft, und Hades gibt auch keinen mehr zurück. Das hat nichts zu tun mit Kraft, sondern einfach nur mit Glück."

Konfrontiert mit einer zunehmend ungewissen Zukunft und (ab einem gewissen Alter lässt sie sich schlicht nicht mehr ignorieren) der eigenen Vergänglichkeit, zieht er Bilanz. Dabei weitet er seinen Erzählrahmen auch über seine eigene Existenz hinaus aus.

Inspiriert von einem sowjetischen Antikriegsfilm, der sich seinen Titel wiederum (da ist er wieder, der Katholizismus) bei der Offenbarung des Johannes geborgt hat, thematisiert "Komm Und Sieh" auf eindringlichste denkbare Weise das Trauma, das der zweite Weltkrieg hinterlassen hat. Über Generationen hinweg spüren, auf Täter- wie auf Opferseite, noch die Kinder und Enkel der unmittelbar Beteiligten Hitlers Finger in ihrem Haar, während die Ära der Zeitzeugen unwiederbringlich zuende geht. Akustisch von Ahzumjot und in bewegten Schwarz-Weiß-Bildern von Liam Tanzen und Laurin Schuh in Szene gesetzt, verbinden sich Text, Musik und Bild zu einem audiovisuellen Gesamtkunstwerk, das in jeden Geschichtsunterricht gehört.

Auch in die andere Richtung wandert Grim104 auf dem Zeitstrahl und prophezeit am Ende im "Sonnenuntergang", wie er seinem künftigen Kinde grundlegende Fragen, etwa nach dem Wesen des Links-Seins, zu beantworten gedenke.

Dazwischen: immer wieder Realitycheck. Wer bin ich? Wo komm' ich her? Was hab' ich geschafft? Wo klemmts noch? Grim setzt sich mit seinem Markenfetischismus, dem ständigen Zwang, sich mit anderen zu vergleichen, seinen Ängsten, Unsicherheiten und Unzulänglichkeiten auseinander. Um aus "Ü 30 Männer Im Club" herauszuhören, dass er mit seiner Rolle als alter(nder) erwachsener Mann noch erheblich fremdelt, muss man gar nicht so furchtbar tief zwischen den Zeilen stochern. "Wenn ich seit Jahren mich nicht begreife, die tun so, als würden sie mich kennen", schimpft es aus "Abrakadabra". Ganz ehrlich? Wer so offen derart tief blicken lässt, sollte sich darüber vielleicht nicht allzu laut beschweren.

Die Beats liefert größtenteils Kenji451. Er schafft teils maximalen Kontrast zu den nicht gerade leicht verdaulichen Texten, in "Sonnenuntergang" mit klimperndem Klavier und flirrenden Saiten etwa. Oder, noch drastischer, mit fluffig-freundlichem, von Vogelgezwitscher durchzogenem Sommersound in "Numb", hier zusätzlich mit Schützenhilfe von LGoonys wachsweichem Gesang in der Hook.

An anderen Stellen greifen Kenjis Instrumentals aber genau die beschriebene Szenerie auf. Wenn Grim104 in "Ü 30 Männer Im Club" eine vorgezogene Midlife-Crisis beschreibt und der ordentlich knallende Beat nahtlos in Synthie-Clubsound überpumpt, fühlt man sich, als stehe man, "hin- und hergerissen zwischen Würde und würde", am Tresen daneben und beobachte live, wie sich da zwei Generationen halb neidisch, halb mit Verachtung gegenseitig scheel beäugen.

Die Videothek als Leitmotiv passt: Zwischen den verstaubten VHS-Kassetten mit den Episoden aus Grims Leben, "Ghostdog"-Referenzen und dem monumentalen Antikriegs-Epos "Komm Und Sieh" findet, wer dort herumstöbert, auch noch "Das Versprechen": Es geht, diesmal instrumentiert von Panik Panzer, um häusliche Gewalt, Nachbarschaft und Zivilcourage, um Verbrechen und Versprechen, erneut ganz leichte Kost. Wer hiernach nicht wenigstens in Erwägung zieht, dass der beste Storyteller, den deutscher Rap aktuell zu bieten hat, Grim104 heißen könnte, muss einen anderen Film gesehen haben.

Trackliste

  1. 1. Abrakadabra
  2. 2. Honda Legend '99
  3. 3. Bam Margera
  4. 4. Numb feat. LGoony
  5. 5. Voo Store
  6. 6. Ü 30 Männer Im Club feat. Kaiii
  7. 7. Komm Und Sieh
  8. 8. Das Versprechen
  9. 9. Imperium
  10. 10. Sonnenuntergang

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