laut.de-Kritik
Kokain, Rückenschmerzen oder der ganz normale Lauf des Lebens.
Review von Michael SchuhEs gibt keine zwei Meinungen zu Jarvis Cocker, denn Michael Jackson ist tot. Schon länger. Ungefähr so lange, wie Jarvis abgetaucht ist. Wie weit sich der Brite wirklich von seinem Leben als aktiver Musiker entfernt hat, wurde selten so schön illustriert wie in einer Meldung von 2017, wonach Cocker für eine ABBA-Ausstellung den Audioguide eingesprochen hat.
Nur Menschen, die Pulp in den 90er Jahren aktiv mitbekommen haben, erinnern sich beim Anblick dieses rundum sympathischen Erdkunde-Lehrers an die stilvollste Figur jenes Pop-Jahrzehnts, an den schlausten und vielleicht auch humorvollsten Texter. Das schreibt sich jetzt so leicht dahin, aber wenn man ehrlich ist, muss man zugeben, dass man die auch schon wieder knapp zehn Jahre seit der Pulp-Reunion tatsächlich ganz gut ohne ihn rumgebracht hat.
Wie so viele Lichtgestalten hatte auch Cocker Besseres zu tun. Er erzog einen Sohn, nahm an Wal-Expeditionen teil, arbeitete als leitender Redakteur des Faber-and-Faber-Verlags, schrieb für Marianne Faithfull und Nancy Sinatra. Eigene Musik aufnehmen? Meinetwegen, schien Cocker zu denken, aber bitte sophisticated, ich lebe nicht umsonst in Paris. Klavieretüden mit Chilly Gonzales? Von mir aus.
Auf ein Album wie "Beyond The Pale" hat also niemand gewartet, aber nun, wo es eben da ist, kommen all die guten Erinnerungen zurück. Man hängt ihm sofort wieder an den Lippen, diesem legendär trockenen Flüsterton, zumal wenn dann noch die hochtrabendsten Themen großartig aufgebrochen werden. Jarvis stellt auf diesem Album viele Fragen, darunter durchaus wesentliche, etwa nach dem Sinn des Lebens. Und konkludiert: "This body is a temporary home / this body wants to take your body home". Da ist sie wieder, diese unbändige Formulierlust und das Streben nach unsterblichen Zeilen wie "I'm not Jesus, though I have the same initials".
Menschen, die Pulp in den 90er Jahren nicht aktiv mitbekommen haben, mögen nur an den Sänger dieser Britpop-Band mit dem Disco-Hit denken. Jenen sei das Opus Magnum "This Is Hardcore" von 1998 empfohlen. Und sie sollten auch wissen, dass dieser Jarvis für die BBC schon einen "Sunday Service" abgehalten hat, als ein Kanye West noch hungrig auf den Rap-Thron war. Und wie man einen soliden Awardshow-Bühnencrash hinlegt, nun, auch hierzu bräuchte er von Kanye keine Nachhilfe, Stichwort Jackson.
Worauf ich hinaus will: Diesem Mann muss endlich wieder zugehört werden. Zum Glück überkamen ihn irgendwann selbst die Fragen, die nun Eingang in "Am I Missing Something?" fanden: "Is there something that I lack? / Something going on behind my back / Am I missing something?" 2017 nahm er eine Festivaleinladung von Sigur Ros nach Reykjavik an, er hatte keine Band, aber die Verlockung war zu groß. Cocker hängte sich rein, gruppierte Musiker um seinen alten Freund Jason Buckle von Relaxed Muscle und fand Gefallen an der Idee, nur mit rudimentären Skizzen auf die Bühne zu gehen, um die Songs vor Publikum weiter zu modulieren. So wäre es weitergegangen, aber Geoff Barrow von Portishead brachte eine Albumaufnahme basierend auf den Konzerten ins Spiel. Fortan wurde alles mitgeschnitten, um keine gute Idee zu verpassen. Auf "Beyond The Pale" hören wir in weiten Teilen Live-Aufnahmen.
Doch anstelle von Rock-Glamour oder endlosen Jams regiert auf "Beyond The Pale" unverkennbar der House-Jarvis, der um die Jahrtausendwende die Elektronik lieben gelernt hat. Das düster pluckernde "Save The Whale" ist dahingehend ein idealer Opener, der die atmosphärische Richtung vorgibt. Verschrobener Robot-Soul mit weiblichem Geister-Backgroundgesang, derweil Jarvis auf den Spuren seines Idols Leonard Cohen wandelt und diesem mit der Zeile "I like it dark" dann auch noch Tribut zollt.
Es ist schwer begreifbar, wie diese feingliedrige Musik erst vor Publikum zusammen gefunden haben soll. Noch rätselhafter, wie Jarvis darauf kam, mit "House Music All Night Long" einen Lockdown-Song vor der Pandemie zu verfassen. Auch hier wieder reinstes Textgold samt popkultureller Bezüge: "Saturday night cabin fever in house nation / this is one nation under a roof / ain't that the truth? / Godamm this claustrophobia / Cause I should be disrobing ya." Der hymnischste Album-Track, der auch als eine Erinnerung an alte Nightlife-Zeiten durchgeht, nimmt über die Zeit von sechs Minuten stetig Fahrt auf und irgendwie klamüsert Cocker am Ende noch die "Such A Shame"-Tonfolge rein.
Auch Harmoniegesang zeichnet die Platte aus: Spielerisch duellieren sich Serafina Steer und Emma Smith, ansonsten für Harfe und Geige zuständig, in "Must I Evolve?" im Call-And-Response mit ihrem Chef, bevor der Song abrupt abbricht. "And now we're back in the stone age", stellt Jarvis fest, meint damit die Primitivität und Magie von Rhythmen und Beats, und verknüpft dies mit seiner Londoner Zeit Ende der 80er samt illegaler Raves und eigener Heroes wie Frankie Knuckles. Die Band gibt Stoff und Cockers pulpeskes Jauchzen ist wieder am Anschlag.
Das grollende, vielleicht etwas unausgegorene "Sometimes I Am Pharaoh" markiert danach einen düsteren Kontrapunkt auf vibrierenden Nick Cave-Soundpatterns, an dessen intensive Balladenkunst man auch bei "Swanky Modes" aufgrund der präsenten Geige denkt. Es ist eine Ode an einen verstorbenen Freund, viel Pulp glitzert hier wieder, und wer kommt bei solch einem Thema auf Zeilen wie diese: "Some fell by the wayside / some moved up to Teeside / some still scoring cocaine / some laid up with back pain".
Kokain und Rückenschmerzen, Cocker kennt beides, wenn auch aus unterschiedlichen Lebensabschnitten. Heutzutage präferiert er die heimische Rudermaschine, wie man hört. Gleichzeitig feierte er 2019 sein Debüt als Crowdsurfer. Jarvis Cockers neues Album ist ein überragendes Zeugnis seines Pop-Verständnisses geworden. Der Mann mag auf die 60 zugehen, aber im Gegensatz zu versteinerten Songwriting-Mumien wie Billy Corgan oder Martin Gore wirkt er nicht nur erfrischend unberechenbar, sondern agiert auch noch auf dem Level alter Großtaten.
3 Kommentare
Schön, dass es Musiker wie Jarvis Cocker gibt, und schön, dass er irgendwie nie ganz weg war.
Geil, geil, geil, geil, geil.... Jarvis ist der Mann.
Klasse Album.