laut.de-Kritik
Musik für die Queer-Breakup-Playlist.
Review von Michael SchuhAußerhalb gut informierter Seattle-Nerd-Kreise ist Jenn Champion noch immer ein Geheimtipp. Oder wie sich die Musikerin selbst auf der Seite ihrer Kickstarter-Kampagne vorstellt: "Vielleicht kennt ihr mich von Carissa's Wierd oder den Queer-Breakup-Playlists eurer Freunde". Letzteres fasst ihr musikalisches Ouevre perfekt zusammen, wie man es von einer Frau erwartet, deren Alben Titel tragen wie "Sadstyle" oder nun "The Last Night Of Sadness". Doch aus dem aktuellen Albumtitel lässt sich schon herauslesen, was Jenn im Vorfeld der Veröffentlichung bestätigte: "Das ist die zuversichtlichste Platte, die ich je gemacht habe."
Dieser Optimismus dürfte sich nicht unwesentlich aus der erfolgreichen Crowdfunding-Aktion gespeist haben, der der Amerikanerin erstmals erlaubte, ein Album frei von jeglichem Labeldruck aufzunehmen. Musikalisch ist davon zum Glück nichts zu spüren. Die in ihrem Homestudio in L.A. selbst produzierte Platte klingt gewohnt dramatisch, passend zu den eröffnenden Worten in "Famous": "Just a kid in a goth club / Didn't know how to feel love / Being dumb and doing drugs / Apologies coming to no one." Im Opener nimmt uns die 45-Jährige wieder fürsorglich an die Hand und teilt ihre Selbstzweifel, die jedem von uns in jeder Lebensphase begegnen, erzählt von einem schwierigen Elternhaus, den Fallstricken des Erfolgs und unerfüllten Träumen, die ihr Hollywood tagtäglich vor die eigene Haustüre spült.
Da sie keine "28" mehr ist, bergen ihre Geschichten über Reha-Aufenthalte oder Existenzängste die für jüngere Hörer*innen mutmachende Perspektive: Egal wie dreckig es euch geht, seht mich an, ich bin auch durchgekommen. Einen authentischen Sound wie ihre Vorbilder Cat Power oder Sleater Kinney hat sie sich längst erarbeitet. Ähnlich wie vor fünf Jahren auf "Single Rider" kleidet Champion traurige Lyrics wie "What they say is true we're all gonna die / sometimes it doesn't feel right to be alive" in pulsierende Synthie-Pop-Beats - ist es doch ihr Anliegen, Menschen mit ihrer Musik zum Tanzen und zum Weinen zu animieren. Beides gelingt auch 2023 wieder vorzüglich.
Dem tieftraurigen "Love Song (Think About It)", der in Wahrheit ein Breakup-Song ist, folgt mit "Think About It (The Turn)" wieder ein mitreißender Disco-Track. Schwer zu glauben, dass dieselbe Musikerin einst mit schludrigem Slowcore (nicht) bekannt wurde. Das tolle "Millionaires", auf das uns ein viel zu kurz geratenes Soul-Interlude vorbereitet, atmet auch ganz viel 80er-Pop und zieht einen kurz weg von den Sorgen des Alltags auf die Tanzfläche.
Dabei ist ihr Vortrag durchweg so klar, ihr Vokabular so präzise, dass "The Last Night Of Sadness" für Champion nichts anderes als eine karthatische Erfahrung gewesen sein muss. Ähnlich wie bei Phoebe Bridgers schwimmen ihre Worte in einem Meer der Verletzlichkeit, voll emotionaler, oft schmerzender Reflektion. In der musikalischen Ausgestaltung agiert sie ebenfalls minimalistisch und mit starkem Zug zur Hook, nur dass Jenn Champion der verdiente Platz im Rampenlicht bislang verwehrt blieb.
"Hey look at you, you didn't die / made it another 365", klopft sie einem am Ende auf die Schultern. Die Sterblichkeit mag unausweichlich sein, aber bis es soweit ist, könnte man das Beste draus machen. "Happy Birthday, you didn't die." Wichtige Botschaften für traurige Nächte.
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