laut.de-Kritik

Deepes Werk mit Message und Style.

Review von

Was, schon wieder eine neue CD von Mellencamp? Der Americana-Routinier klang zwar auf eine gewisse Art immer gleich. Was man langweilig oder eine klare Markenprägung finden kann, lässt er in "Orpheus Descending" überraschender Weise beiseite. Die Scheibe mit dem barocken Mini-Aquarell auf dem Cover hat mit der dort abgebildeten Geige auch eher wenig am Hut, gleichwohl einzelne Momente zum Beispiel in "Land Of The So-Called Free" von der Fiddle befeuert werden oder gar nach Kammermusik klingen wie in "The Kindness Of Lovers". "Amen" baut dagegen auf saftige Griffe an den Tasten, kollidiert leicht jazzig-polyrhythmisch mit den Drums und versetzt in eine Tom Waits-Atmosphäre, der die rauchig gewordene Stimme den Rest gibt.

John Mellencamp, 71, röchelt und keucht fast so heiser, wie Leonard Cohen Anfang der '90er, als nur noch der Gang ins Kloster half. Bereits vor der physischen CD "Orpheus Descending" stand das Album nahezu unbemerkt 14 Tage lang auf YouTube; von den Fans, die es entdeckten, empfehlen zwar einige, er solle das Rauchen aufhören, manch einer bekommt durch sie aber Gänsehaut. Darin liegt genau der Effekt: Mellencamp verliert das Beiläufige, den Restgehalt an Glätte, die auf "Strictly A One-Eyed Jack" noch durchschien, gleichwohl er manche Stilverwandlung von 2022 jetzt fortsetzt. Seine Vocals hören sich zum ersten Mal wirklich spannend an.

Eine Spannung, die er sogar dann aufrecht erhält, wenn er etwa im berührenden "The Kindness Of Lovers" zwischen Singen, Erzählen und bellendem Auswurf der Silben pendelt und in der Schlüsselzeile "Dollar, diamonds make the difference / when it comes to the end of the day" gipfelt. Die traurige Ballade, inklusive Zwiegespräch mit Jesus, durchzieht eine Lebensbilanz falscher Entscheidungen, bereuter Momente, von Zeitverschwendung, Notlügen und Schutzbehauptungen.

Einen neuen 'Hit' im Sinne von Hooklines platziert er auf der Platte nicht. Obwohl der Anti-Waffen-Song "Hey God" mit seinem reißerischen Klimawandel-Video in seinen deftigen, lauten, anklagenden Passagen ein Earcatcher ist, aber einer aus der Sparte der dissonanten Lieder, die so schön sind, weil sie so unverblümt das Hässliche in der Welt vertonen. Radiotaugliches im handlichen Sinne gibt's nicht, obschon sich der intime Klavier-Cello-Song "Understated Reverence" straight für die Top 100 der schönsten Rock-Balladen aller Zeiten bewirbt. Ich hatte beim ersten Hören feuchte Augen. Mellencamp beschreibt in dem Lied über Schuld und 'jüngstes Gericht', wie man im Memphis-Country-Blues der 1930er Jahre rausfinde, "who we really are".

Eingängig geben sich die Songs trotz solch kryptischer Texte auf ihre spröde Art trotzdem. Ob eben mit Tom Waits-Groove im schwungreichen "Amen" oder mit Bluegrass- und Steve Earle-Zitaten im rustikalen und Hammond-Orgel-unterfütterten Sound von "Land Of The So-Called Free". Dort zerlegt John die US-Identität als Land der großen Freiheiten metaphorisch und hintersinnig. Erst entzaubert er die New Yorker Freiheitsstatue, "to me it didn't mean a thing", dann karikiert er den verbreiteten Waffenbesitz: "Ein Verwandter von mir hielt sich eine Pistole an den Kopf, 'Das Leben ist zu langweilig', ist alles, was in seinem Abschiedsbrief steht". Mellencamp schlussfolgert in Anspielung auf die verblassende Goldgräber-Stimmung im Land der Working Poor, das längst Mark Zuckerberg und Jeff Bezos regieren: "No heroes nowhere / no dreams could be caught."

"Du warst so verrückt wie ich", knarzt der Kritiker über die kritisierte Statue. "Aber auch wenn wir beide zwei Monster sind, die man entkleidet nebeneinander legt, wird daraus noch keine Familie. Wir sahen beide die Gefahr, als wir die Haut auf unseren aufgeschürften Knien sahen, und wir sind beide so wertlos wie Geld, in diesem Land der sogenannten freien Leute." - In "The Eyes Of Portland" stellt er dar, dass sich die Gesellschaft viel mehr in Obdachlose und Labersäcke spalte, die für diese Obdachlosen im besten Falle beten würden, "in this land of plenty, where nothing gets done". Da hat sich einiges angestaut, für ein Protestlied für die Leute in den Trailer-Parks an den Outskirts, für die Prostituierten, für psychisch Kranke, die an der Leistungsgesellschaft scheitern. Mellencamp speiste seine Gedanken aus einer Zufallsbegegnung mit einer 20-Jährigen ohne Wohnsitz.

Auch wenn man ihm hier nicht wirklich in den Kopf schauen kann, ist es interessant, zu spüren, dass er sich Gedanken gemacht hat. Dass Zerknirschtheit seinen Vortrag umtreibt. Mittels ausgeklügelter Instrumentierungen und anspruchsvoller Lied-Dramaturgien wird seine Empathie für die 'Unter'schicht und seine Awareness sozialer Probleme sehr deutlich.

Nachdem das düstere Titelstück dann Stakkato-Outlaw-Rock vom Feinsten raushängen lässt und mit der Mitgröl-Zeile "if there's a will, there's always a fuckin' way" die Richtung vorgibt, hat der Singer/Songwriter einen dann nachhaltig gepackt. Die weiteren Stücke halten das Level, wechseln aber die Stimmungen. "Perfect World" entfaltet eine sakrale, zittrige Aura und bietet ein kraftvolles Mundharmonika-Solo. Der Sänger sinniert sehr schwermütig, die Orgel bläst Wärme ins beklommene Setting. "One More Trick" lebt von den Fingerpicking-Tricks in der charismatischen Harmoniegestaltung, während John stimmlich wie ein abgewrackter Greis auf dem Zahnfleisch daher kriecht.

'Schräg' ist eine Untertreibung für dieses in seiner stolpernden Hölzernheit doch seltsam flüssige Lied, das sich ein bisschen Mortalitäts-Charme beim Spätwerk des 'Man in Black' ablauscht. "Lightning And Luck" folgt derweil der Songwriting-Technik eines anderen 'Highwayman', Kris Kristofferson, und leitet von Lebensrückblicken in den Strophen ("Helden hatten wir viele, die für uns Pate standen, wenn wir selber blind waren") zu einem hymnischen, tänzelnden Refrain voller Anmut über.

Der Akustik-Gitarrist aus Indiana übertrifft sich selbst. Toll für Fans von alternativem Folk-Rock, Heartland-Country jenseits von Nashville, Polit-Songs, Liedern mit Message, und für alle die gerne wissen möchten, wie sich quasi Nick Cave mit der Stimme von Tom Waits auf Riffs von Cat Power mit Blues- und Bluegrass-Inspiration anhört - insgesamt: Hammer!

Trackliste

  1. 1. Hey God
  2. 2. The Eyes Of Portland
  3. 3. Land Of The So-Called Free
  4. 4. The Kindness Of Lovers
  5. 5. Amen
  6. 6. Orpheus Descending
  7. 7. Understated Reverence
  8. 8. One More Trick
  9. 9. Lightning And Luck
  10. 10. Perfect World
  11. 11. Backbone

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