laut.de-Kritik

Das fleischgewordene Spektakel geht nie zu Ende. Nie.

Review von

Es wäre kein Kanye West-Album, wenn es nicht im Vorfeld schon wieder so viel Brimborium gegeben hätte, dass man einer Kritik am liebsten drei Seiten Präambel voraus schicken würde: Der Mann, der an diesem Punkt zu drei Prozent aus Zellhaufen und zu 97 Prozent aus fleischgewordenem Spektakel besteht, hat also zu Gott gefunden.

Seit einem Jahr predigt Kanye Woche für Woche einen Sunday Service samt Gospelchor und prominenten Gästen, bezeichnet Rap inzwischen als die Musik des Teufels und verspricht, sein altes Material vorerst nicht mehr anzurühren. Ein neues Album solle ein Gelübde darstellen. Einen Schwur. Die Wiedergeburt. Ab 2019 heißt es bei Kanye nur noch "Jesus Is King".

Wir wussten natürlich alle, dass dies Blödsinn ist, an den er sich in höchstens drei Monaten nicht mehr halten wird. Kanye ist nachweislich der impulsivste und inkonsequenteste Superstar unserer Zeit. Und mit dem neuen Album hat er es geschafft, das geballte Chaos, den furchtbaren Rollout und die komplett verhunzte Infopolitik seiner Vorgängeralben "The Life Of Pablo" und "Ye" noch einmal zu unterbieten.

Drei Mal verschoben, ein komplettes Album geleakt und schräg recyclet, seine seltsamsten Aussagen nicht revidiert und dazu mit fragwürdigem Gedankengut noch mal ordentlich auf den Putz gehauen: Ja, da lag viel im Argen, bevor "Jesus Is King" das Licht der Welt erblickte. Fans wie Kritiker waren sich schnell einig. Dieses Mal hat Ye so richtig reingeschissen - ein absoluter Rohrkrepierer.

Es wäre kein Album von Kanye West, wenn man nicht ein langes Vorgeplänkel bräuchte, bevor man überhaupt ein Wort über die Musik schreibt. Denn jede einzelne Information ist absolut und essentiell notwendig, um Impact, Probleme und Potential dieser Platte zu verstehen.

"Jesus Is King" wurde im Sturm der Hot Takes geboren, ist aber bei Leibe kein Album, das man vorschnell aburteilen sollte. Denn bringt man einige Tage Geduld auf, hat es vieles anzubieten. Das Problem ist, dass die Schwächen der Platte nicht nur auffällig sind, sondern an so irritierenden Stellen zu Tage treten, dass sie in ihrer absurden Inkompetenz kaum zu erklären sind.

Zum einen merkte man Nummern wie "Selah" oder "On God" schon am Releasetag an, dass wir Mixdowns auf Demolevel hören. Ein Album, das durch die Hände von Timbaland, Kanye, Mike Dean und einer ganzen Schar Profimusikern gegangen ist, sollte nach einem Jahr Gärzeit nicht so klingen. Schlimmer noch: Auch das Niveau des Songwritings vieler Nummern bleibt unerklärlich niedrig.

Von dreizehn Titeln schafft es kaum einer über die Drei-Minuten-Marke. Auch das Pacing ist ein Desaster. Allein der Anfang fühlt sich mehrmals an, als würde das Album willkürlich abgewürgt und ein anderes angefangen. Nur weil Instrumente inhaltlich zusammenpassen, bedeutet das nicht, dass es einen Funken dramaturgischen Sinne ergibt, wenn nach dem nach einer Minute abrupt abgeschnittenen Gospelchor von "Every Hour" plötzlich eine melodramatische Kirchenorgel einsetzt ("Selah").

Dieser Fakt lähmt besonders die zweite Hälfte von "Jesus Is King" und irritiert immens. Die Nummern "Everything We Need", "Water" und "God Is" purzeln so unkoordiniert ineinander, dass man meinen könnte, man höre die Christian Rap-Radio-Playlist im Shufflemodus und nicht das Album eines der renommiertesten Album-Artists der Hip Hop-Geschichte. Das tut gerade eingefleischten Kanye-Fans weh.

Zuletzt bleiben nur noch die Lyrics, die verständlicherweise viele Fans abschreckten. Es wäre schon schlimm genug, dass hier geballter Jesus-Talk wie alttestamentarische Heuschrecken auf unvorbereitete Ungläubige niederhagelt. Es ist beizeiten aber auch dämlicher Jesus-Talk - ohne Witz, ohne Selbstreflektion und ohne viel Detail. Dafür mit 'Chick-Fil-A', Repetition und blödsinnigen Rechtfertigungen seiner Klamottenpreise.

So weit, so düster sieht es aus bezüglich Kanyes Track Record. Es gibt wohl kaum jemanden, der sich nach den ersten Hördurchgängen auf dem Durchschnittslevel seiner Diskographie wähnt. Trotzdem: Ein bisschen erkennt auch jeder an, dass die Ideen da sind. Die Sounds sind da. Und tatsächlich bleiben eine ganze Menge Momente auf "Jesus Is King" hängen, krallen sich im Gedächtnis fest und hallen noch eine ganze Weile nach.

Zum Beispiel die psychedelische Zugkraft im Pi'erre Bourne-Instrumental "On God". Die angelischen Vocal-Layers auf "Water" oder "Everything We Need". Der verspulte, trippige Beat von "Use This Gospel", auf dem auch die Clipse-Brüder Pusha T und No Malice zusammenfinden, bevor ein spektakuläres Kenny G-Solo den Song in die Stratosphäre schickt. Momente, wie sie nur Kanye zusammenführen kann.

Es ist dennoch tragisch, denn der Kopf sucht intuitiv nach dem besseren Album, das "Jesus Is King" hätte sein können, gäbe es da nur ein paar dieser offensichtlichen Baustellen nicht. Wenn es doch nur ein paar ausgefeiltere Outros und Übergänge gegeben hätte, wenn ein paar Verses etwas genauer raffiniert wären. Aber genau wie das ganze Drama im Vorfeld der Platte sein musste, sollte man diesen Instinkt für einen Moment abstellen und einfach mal hinhören - und die Momente, die eindrucksvoll klingen, häufen sich bei jedem Durchlauf.

Auf einmal zeigen auch "Selah" und "Closed On Sunday" eine imposante Entwicklung auf. Die statischen Songs weisen plötzlich eine subtile Atmosphäre auf. "Follow God" könnte ein Raptrack auf "College Dropout" sein, der minimale Sample-Loop ist die perfekte Grundlage für einen Kanye, der hungrig wie eh und je rappt. "God Is" und "Hands On" verschieben auf stille Art und Weise Klang und Momentum ihrer Loops nach vorne. "Use This Gospel" ist geradeheraus ein Banger, der ins Unermessliche wächst, gewöhnt man sich erst einmal an den Mix der Pusha-Vocals und die etwas abrupten Übergänge.

Nicht zum ersten Mal löst Kanye mit einem Album einen immensen Backlash aus. Schon "808s & Heartbreak" und "Yeezus" polarisierten ähnlich. "Jesus Is King" teilt hier ein paar Elemente, einige aber nicht. Zum einen sind es diesmal nicht nur Innovation und die Radikalität des Statements, die die Hörer abschrecken.

Die Platte hat objektive Probleme, Fehler und Schwächen, die nicht wegzudiskutieren sind. "Jesus Is King" klingt wie ein Album, das einen Monat vor Fertigstellung veröffentlicht wurde. Gleichzeitig wünscht man sich auch nicht, dass die radikalen Elemente so viel Einfluss bekommen wie die seiner früheren wegweisenden Alben. Autotune, Melancholie und Industrial-Electro sind schöne und wichtige Taktgeber. Penibler, peinlicher Jesus-Talk und modernisierter Gospel sind dagegen nichts, was der Mainstream unbedingt adaptieren müsste.

Und doch kann man ganz vorsichtig unterstellen, dass "Jesus Is King" nicht halb so schlecht altern wird, wie es den Anschein hat - ein faszinierendes Album. Der Sound bleibt nach wie vor auf dem Level von Kanyes Reputation. So viele Stellen sind markant, kreativ, einprägsam und funktionieren wahnsinnig gut. Es gibt kaum einen Hip Hop-Artist, der so viele musikalische Einfälle auf so dichtem Raum präsentiert. Hört man "Jesus Is King", wird man einen Vibe bemerken, den kein anderes Album da draußen bietet.

Man findet musikalische Momente, die unorthodox, absolut starrsinnig und doch unglaublich effektiv klingen. Es gibt so vieles zu lieben, wie es zu kritisieren gibt. Doch kommt man nicht umhin, die Platte für ihre Schrägheit zu bewundern. "Jesus Is King" ist ein Event, der im Grunde jedes Urteil irgendwie rechtfertigen würde. Ob man das Album mag, hängt am Ende des Tages von nichts anderem ab als davon, wie sehr man sich darauf einlässt.

Trackliste

  1. 1. Every Hour (feat. Sunday Service Choir)
  2. 2. Selah
  3. 3. Follow God
  4. 4. Closed On Sunday
  5. 5. On God
  6. 6. Everything We Need (feat. Ty Dolla $ign, Ant Clemons)
  7. 7. Water (feat. Ant Clemons)
  8. 8. God Is
  9. 9. Hands On (feat. Fred Hammond)
  10. 10. Use This Gospel (feat. Clipse, Kenny G)
  11. 11. Jesus Is Lord

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20 Kommentare mit 20 Antworten

  • Vor 4 Jahren

    Kann jedem Zweifler nur ans Herz legen, sich den kurz nach Album Release im Inglewood Forum aufgenommenen Live Sunday Service anzusehen/hören. Die Live Versionen der Album Tracks (incl. Live Auftritten von Kenny G, Clipse, Francis & the Lights) sind mal sowas von um Klassen besser als die Album Versionen, das wären die Versionen die ich mir auf das Album gewünscht hätte!! Höre schon seit Tagen nichts anderes mehr.
    Hier der Ausschnitt der Use this Gospel live Version:
    https://youtu.be/t9bitCLhBgE

    • Vor 4 Jahren

      Scheußlich. Die Leadmelodie klingt wie Klavierunterricht Grundschule. Gospel zum Mitgröhlen. Kanye "singt" konstant neben dem Ton. Und dann noch das Softcoregetröte auf dem Sax. Nein, danke.

  • Vor 4 Jahren

    Trotz seiner Kürze von knapp 27 Minuten bei immerhin elf Tracks ist dieses Album reine Zeitverschwendung. Überhaupt passt diese großmäulig wie immer zur Schau getragene christliche Gesinnung nicht zum übrigen Soap Opera Gebaren des West-Kardashian-Clans. Und wenn der Multimillionär die hohen Preise seiner Merchandising-Produkte damit rechtfertigt, dass er seine Familie nicht verhungern lassen kann, ist dies mehr als lächerlich und peinlich. Im Grunde geht es seit seinem Geniestreich "My Beautiful Dark Twisted Fantasy" mit Kanye West nur noch bergab.

  • Vor 4 Jahren

    Wenn er dann mal richtig rappt und sich den Beats hingibt ist das immer großartig