laut.de-Kritik
Dieses Album vertont den Druck, die Maßstäbe zu setzen.
Review von Yannik GölzKollege Kay Schier hat es zu "Mr. Morale & The Big Steppers" schön geschrieben: Kendrick Lamar hat diesen Status, der jedes seiner Releases Schockwellen durch die Musikwelt senden lässt. Nun sitzen sie alle vor dem überraschend veröffentlichten "GNX", die Fans, die Kritiker und Kritikerinnen, und müssen binnen Tagen zu diesem Mann aufschließen, der zurecht für sich beansprucht, als Speerspitze der Rapmusik zu gelten.
Der ist dem Rest der Welt schon wieder zehn Schritte voraus, fürchtet man, und auch wenn wir hier am Ende mit einer numerischen Wertung dastehen, ist es erst einmal genug verlangt, zu verorten, wohin es ihn diesmal kreativ verschlagen hat. Es macht irgendwie auch Spaß, im Laufe dieses Wochenendes, an dem wir uns alle diesem neuen Album stellen, zuzugucken, wie Narrative und Talking Points aufkommen und doch wieder verworfen werden.
Der erste große Schocker: Das hier ist kein Konzeptalbum. Oder etwa doch? Jedenfalls drängt sich kein prominentes Thema und keine Leiterzählung in den Vordergrund, nicht einmal die Stundenmarke knackt es. Keine Kodak Black-Moderation, keine Skits, kein "I remember you was conflicted". Eine lateinamerikanische Sängerin taucht dreimal auf, aber damit hat es sich auch schon mit den wiederkehrenden Momenten. Das Konzept ist, kein Konzeptalbum zu machen. Nichts da: Der nichtssagende Titel (benannt nach einem schnellen Auto) und das irgendwie langweilige Cover schreien förmlich: Guck mal, Kendrick macht ein normales Album! Never let them know your next move, sagen sie so schön, und damit hat man wirklich nicht gerechnet.
Aber wie normal kann ein Kendrick-Album schon sein? Es muss ja um irgendetwas gehen. Also: Zwei Sachen haben sich deswegen an die Stelle der großen Erzählung geschoben, wenn Leute versuchen, "GNX" zu charakterisieren. Erst einmal, offensichtlich, ist das hier sein Westcoast-Album. Das macht Kendrick demonstrativ, und er geht auch nicht den einfachen Weg, sich Snoop und E-40 für Legenden-Cred zu holen. Er nimmt den Weg der modernen, untergründigen LA-Sounds. Darüber sprechen wir später. Wichtig ist zuerst, dass diese Anwesenheit von Straßenrappern und Subwoofer-sprengenden 808-Knocks das zweite Narrativ ermöglicht: Macht Kendrick hier ein "Fun-Banger-Album"? So ein bisschen wie Denzel auf "Zuu"?
Ich bin mir nicht ganz sicher. Es gab seit dem letzten Album diese paar Tracks mit Baby Keem, die für mich einen lockeren Kendrick skizzieren, und ja, ein bisschen von "The Hillbillies" oder "Range Brothers" schlägt auf Tracks wie "Squabble Up" oder "Peekaboo" schon durch. Aber das sind Momente auf einem Album, das mir viel öfter ernst als locker vorkommt.
"GNX" beginnt auf "Wacced Out Murals" mit dem Bild, dass Kendrick über einer anthrazitschwarz-minimalistischen Bassline über ein zerstörtes Wandgemälde seiner selbst ins Grübeln kommt. Wie er das aufzieht: Chor, mexikanisches Totenlied, getragene Streicher. Er eröffnet das Album im dramatischen King Lear-Monolog, es braucht neunzig Sekunden, bis die Westcoast-Bässe überhaupt erst subtil den Trauerzug betreten.
Ich glaube generell nicht, dass sich Kendricks Stimmung seit "Mr. Morale" groß geändert hat. Er ist immer noch getrieben, verkopft, bissig bis zum Zähneknirschen und stellenweise regelrecht paranoid. Aber hat sich dieses Overthinking auf dem Vorgänger noch vorrangig gegen ihn selbst gerichtet und zu dieser therapeutensprachigen Selbstabrechnung geführt, wandelt er dieselbe Energie dieses Mal in einen nahezu manischen Höhenflug um. Hieß es auf "Mr. Morale" "I'm not your savior", erleben wir hier das Gegenteil: Scheißt drauf, scheint er zu sagen, ich bin definitiv euer savior. Der Intro endet mit dem Satz: "Well, I did whacked the murals out, but it ain't no legends if my legend ends", und dieses Shittalking lässt so bald nicht nach.
"It's innate to mind my business / Writin' words, tryna elevate these children / That's why I deserve it all / Pray for those who prayed against me / Every reason why my ancestors sent me / bitch, I deserve it all" ("Man At The Garden"), "Hmm, hey now, say now / I'm way too important / I'm way too important" ("Hey Now"), "My present life is Kendrick Lamar / A rapper looking at the lyrics to keep you in awe" ("Reincarnated"). Dieses Album übt fließenden Übergang zwischen Tongue-in-cheek-Battlerap-Selbstüberhöhung und einem Gottkomplex noch jenseits Kanyes, als wolle er wirklich aktiv ausklamüsern, was es jetzt bedeutet, der beste Rapper aller Zeiten zu sein.
Musikalisch hören wir Westküsten-Sounds, richtig, aber nicht die klassischen Westküsten-Texturen. Dieses Album mahlt und dröhnt und zittert und hetzt, es vertont den Druck, die Maßstäbe zu setzen. Der Druck, die Person zu sein, die sagen muss, wo dieser Hip Hop nun hinsteuern soll.
Halten wir eines fest: Kendrick hat das Recht, diese Position einzunehmen. Handwerklich ist er der beste lebende Rapper, vielleicht der beste aller Zeiten. Es gibt keinen mit so vielen Facetten, so viel Flügelspannweite, so viel Nuance und doch so viel roher Kraft. Er kann auf "Reincarnated" verzweifelt durch die schwarze Geschichte zetern und grölen, einem geflippten 2pac-Beat mindestens das Wasser reichend, genauso wie er soulful und melodisch auf "The Heart Pt. 6" seine Erfolgsgeschichte erzählen kann. Er kann SZA den R'n'B-Duett-Partner auf "Luther" geben, ohne an Natürlichkeit zu verlieren, genauso wie er auf "Peekaboo" surreale Vocal-Inflektionen durchexerziert, als wären da kurz Young Thug bis Yuno Miles in ihn gefahren. Alles funktioniert, er ist jede Sekunde auf diesem Album ein einschüchternd guter MC. Wirklich jede kleine Probe Vocal-Performance auf diesem Album stärkt seinen Anspruch auf den GOAT-Titel.
Aber da ist noch etwas, das das Album thematisch vereint: Die culture. Im Drake-Beef hat Kendrick dieses nutzlos nebulöse, aber irgendwie doch allumspannende Wort absolut für sich reklamiert. Er hat, viele Jahre, nachdem die Wagenburgwälle der Formel "real hip hop" gefallen sind, quasi eine neue Gatekeeping-Formel in die Welt gesetzt: "I'm what the culture's feeling", sagte er da. Dieses Album scheint sein thesis paper darüber zu sein, was es konkret bedeutet, dieser Champion der Kultur zu sein. Denn sagen wir, wie es ist - das Konzept ist flüchtig und in einer so atomisierten Rapszene geradezu albern. Aber Kendrick hat einen Plan, und es lohnt sich entsprechend, dieses Album als Resonanz zum Feindbild Drake zu lesen: Drakes Pop-Rap-Kosmopolitentum steht gegen absolute regionale Verwurzelung.
Hier könnte man einwenden: Aber Kendrick war doch schon immer Westcoast, oder? Jein. Er war TDE, er war der Lieblings-Schützling von Elder Statesmen wie Dr. Dre, er war cool mit den LA-Jazz-Weirdos, die auch von den Grammys und von Pitchfork so sehr geliebt werden. Kendrick war Hip Hops Vorzeigestreber, und damit kurioserweise latent out of step mit den Sounds, die den Untergrund von Los Angeles in den letzten zehn Jahren wirklich geprägt haben. Und witzigerweise schien es die durchschlagende kreative Synergie mit jenem DJ Mustard gewesen zu sein, die Kendrick in diesen neuen Lokalpatriotismus gebannt hat.
DJ Mustard, entschuldigt, ich meine "MUSTAAAAAARD", ist eine Weile schon der Tonangeber für spannende, junge Stimmen an der Westküste. Er hat 2012 mit YG die Grundfesten für einen Sound namens Ratchet Music gelegt (ihr erinnert euch: die immergleichen Moll-Tonlagen-808-Basslines, dagegen dann ein paar Bells und Snaps und "Eys", Tyga hat das geliebt), dann aber auch graduell Leute wie Nipsey Hussle, Roddy Ricch, 03 Greedo, 1takejay oder den BlueBucksClan supportet.
So entsteht ein Manöver, das man zwar wie eine Überkorrektur der eigenen Street-Cred empfinden könnte, das aber keinen Zweifel daran lässt, dass Dot sich auskennt. Sein Flow seit "Not Like Us" nimmt viel von Drakeo The Ruler in sich auf, dessen Nervous Rap-Stil eine der interessantesten Entwicklungen der LA-Szene dargestellt hat. Die Reim- und Pausensetzung, das eingewillige Timbre, das ist alles ganz klar er. Auf "Dodger Blue" oder dem Titeltrack "GNX" hört man dagegen expressive Weirdos wie EBK Youngjoc oder die Shoreline Mafia heraus. Ein Trap-Stil, der über Artists wie AzChike, Dody6 oder WallieTheSensei seinen Weg auf das Album findet.
Tatsächlich stellt diese performative Überbetonung einer nicht wirklich existierenden Verbindungslinie zwischen Kendrick und diesen Jungs die größte Schwachstelle des Albums dar. Die besten Songs sind durch die Bank die konventionell Kendrick-igen Songs: "Reincarnated", "Wacced Out Murals", "Man In The Garden" könnten auf "To Pimp A Butterfly", "Good Kiid, Maad City" oder "DAMN." sein.
Die Modernisierung der LA-Trap-Sounds dagegen fühlt sich öfters ein bisschen forciert an: Die Gastrapper scheinen in dieser Lifetime-Feature-Chance nicht gerade über sich hinauszuwachsen, außerdem verliert ihr Sound ein bisschen diese Ratchet Music-Roughness, der sie sonst auszeichnet. Die Produktion von Dahi, Sounwave und einem sehr random-XD auftauchenden Jack Antonoff fügt zwar coole Sound-Spielereien ein, glättet aber auch mit fettem Hochglanz-Mixing die krude Straßenrap-Edge heraus. Gerade Tracks wie "Hey Now", "Dodger Blue" oder "GNX" lechzen nach ein bisschen mehr Schlammigkeit und Brutalität, sie profitieren gar nicht so viel vom geschmackvoll-atmosphärischen Soundbild der Platte, das wiederum für besagte Highlights absolut Wunder tut.
Was ist das also am Ende für ein Album? Auf vielen Ebenen so etwas wie das Gegenteil von "Mr. Morale": Während dieses einen mit Themen fast überfordert hat, bleibt "GNX" bei "Ich bin der Geilste und aus Los Angeles". Auf vielen Ebenen könnte das ein absolutes Argument für "GNX" sein. Beurteilt man nach reiner Rap-Leistung, ist Kendrick hier so dicht und so wild wie in seinen besten Stunden, streitbar so gut wie seit "To Pimp A Butterfly" nicht mehr.
Aber trotzdem bleiben für mich ein paar Nuancen Verwirrung zurück. Offensichtlich kann Kendrick seinen Konzept-Kopf nicht ganz ausstellen, aber die immer wieder aufploppenden Gedanken über Legacy, Inspiration und Competition kommen nicht zu einem größeren Eindruck zusammen, sondern fühlen sich eher wie lose Enden in einem untypisch schnellschussigen Projekt an. "GNX" scheint Intuition über Perfektionismus zu legen, Performance über Konzeption und Stolz über Overthinking. Gewissermaßen überkorrigiert er damit alles, das man "Mr. Morale" hätte ankreiden können, und irgendwie ergeben die beiden damit ein ulkiges Gegensatz-Paar.
Es spricht für Kendrick, dass er selbst mit abgespecktem Album-Artist-Anspruch locker in die Album-des-Jahres-Diskussion gehört, aber am Ende wurmt es mich doch ein bisschen, dass sein großes "I'm for the culture"-Statement-Album so viel alten Sound rauskehrt, um sich mit jungen Artists zu schmücken, mit denen er davor nichts zu tun hatte und die danach auch nichts mehr von ihm hören werden. Vielleicht liege ich komplett daneben, aber ich bin ziemlich sicher, dass Kendrick nicht auf dem kommenden AzChike-Album auftauchen wird. Ich glaube auch, dass keiner von denen so richtig viel von diesem Cosign profitieren wird, sondern sie am Ende einfach nur als Beweismaterial für einen Fan-War herhalten durften. Kendrick hat sich ja auch nicht (öffentlich, soweit ich weiß) um Drakeo oder Slo-Be geschert, als die noch am Leben waren. Trotz der Hip Hop-Majestät der Stadt krebst diese lebendige LA-Untergrund-Szene seit Jahren weit fernab von überregionalem Erfolg herum. Außer dass SOB X RBE einmal auf dem "Black Panther"-Soundtrack waren, hat Kendrick sich nie für sie starkgemacht.
Leute lesen dieses Album als einen großen Beweis von Authentizität, aber mir kommt es eher wie ein kurzlebiger Flirt mit einem Sound und einer Szene vor, mit der Kendrick Lamar bis dahin denkbar wenig zu tun hatte. Ja, die kommen alle grob aus derselben Stadt, aber da ist nichts von Kendrick in AzChike und nichts von AzChike in Kendrick. Der authentischste Kendrick bleibt für mich doch der grüblerische Rap-Streber-Kendrick, der Filmemacher, der Schwarze-Musikgeschichte-Nerd, der Over-Achiever, und dieses Album ist immer dann großartig, wenn der zum Vorschein kommt. Die Synergie mit diesem LA-Untergrund überzeugt mich dagegen nicht restlos.
13 Kommentare mit 6 Antworten
Macht Spaß. Endlich mal wieder richtige Hip Hop Musik. War mir alles ein bisschen zu verkopft, verschnörkelt und gewollt künstlerisch wertvoll nach Damn.
Vielleicht braucht es ein paar Durchläufe mehr, aber bisher zündet das Ding noch nicht so recht. Ich habe echt ein Problem mit diesen immer gleichen und vorsichtig gesagt minimalistischen DJ Mustard Beats. Ärgerlich, da ein unverkrampft spittender Kendrick ja erstmal nach einer guten Idee klingt. Aber wie gesagt, vielleicht wächst es ja noch, wäre ja nicht das erste Mal.
Btw. sooo verkopft und artsy wie alle tun, war Mr. Morale nun wirklich nicht. Das Ding war zwar lang, aber bei weitem nicht so verdreht konzeptlastig wie ein TPAB.
Es wird vermutlich auch nicht zünden. Ich habe es ein paar mal gehört und die Hoffnung aufgegeben.
kendrick intertessiert mich seit DAMN. nicht mehr so.
Natürlich noch viel mehr, seit er dein Idol geschlachtet hat.
Ja, also der Albung ist halt safe 5/5 und AOTY Anwärter.
Wurde hier ja jetzt schon ein paar Mal geschrieben: Nicht so krank verkopft, trotzdem deep, schöne Shots gegen Drizzy, Snoop, Weezy etc, technisch einfach unfickbar, die Features hören sich organisch an, die Beats sind durch die Bank eigtl immer gut bis geil.
2024 gehört K.Dot
Ich schließe mich der Gruppe an, die sagt: Endlich mal wieder ein geiles Hip-Hop-Album.
Ich verstehe aber auch die andere Meinung: Es kommt halt drauf an, wie man Ken sozialisiert wurde.
Sehr sehr gutes Album. Es ist einfach zugänglicher, als die Letzten.
Der Versuch, „I Mic“ von Nas in „man at the garden“ zu toppen, trotzt zwar vor Übermut, aber gut, sei es ihm gegönnt.
Auch für mich das Album des Jahres, nach Krayzie Bone.
Und ganz vergessen: Das Album ist ein absoluter Grower. Jetzt viermal gehört. Der Abstand zu den anderen guten Alben in diesem Jahr wird immer größer. Wird zumindest in diesem Jahr in der Bestenliste im Genre unantastbar.