laut.de-Kritik
Ein Klang gewordenes 'Nein!' zu Rassismus und Totalitarismus.
Review von Ulf KubankeBei Kreidler geht es stets kosmopolitisch und turbulent zu. "European Song" bildet keine Ausnahme. Denn eigentlich hätte es die Platte nie geben sollen. Und es ist kein Grund zum Feiern, dass es sie geben muss. Sehr wohl aber ein Grund zur Freude, dass es sie gibt. Klingt paradox? Ist es auch.
Denn diese fünf Tracks hat sich die Band innerhalb weniger Tage in Hilden aus den Rippen geschnitten. Die Stücke verkörpern einen spontanen Akt des Protestes gegen die totalitären Bestrebungen weltweit. Ganz besonders sind sie eine direkte Folge des Schocks der Wahl Donald Trumps, zielen jedoch ebenso auf Erdogan, Orban, Le Pen, AFD etc.
Dabei waren Kreidler bis zur Wahl des US-Präsidenten mit ganz anderen Sachen beschäftigt. Nach dem großartigen georgischen Abenteuer "ABC", ihrer mit Abstand besten Scheibe, verschlug es sie nach Mexico City. Dort entstand ein komplettes Album, bei dessen Feinschliff sie vom Sieg des aktuellen White House-Chefs überrascht wurden. Kurzentschlossen ließ die Band alles stehen und liegen, um ein Klang gewordenes 'Nein!' zu rassistischen und freiheitsfeindlichen Tendenzen zu erarbeiten.
So weit so gut. Doch hehre Motive allein machen noch keine gute Platte. Kreidler nutzen routiniert sowohl die Gunst des Augenblicks als auch ihre größte Stärke: Zum Umstand, ohnehin gerade eingespielt und im kreativen Prozess gewesen zu sein, kommt ihre Fähigkeit zu Spontaneität und Improvisation.
Beides zusammen rettet die fünf Stücke vor dem Urteil 'Gut gemeint, aber mies gemacht'. Dennoch bleibt ein ambivalenter Geschmack zurück. Die umwerfende Intensität des Vorgängers erreichen sie nicht mal entfernt. Dafür fehlt den Tracks der sonst so verlässlich zündende Kreidrock-Funke. Gleichzeitig birgt ihr sehr individueller Groove - ein Puzzle aus Minimal Music, Trance, Rock und angedeutetem Industrial - trotzdem faszinierende Passagen.
Bis es soweit ist, benötigt man allerdings etwas Geduld. Die ersten Nummern ("Boots" und "Kannibal") gehen eher als nette Hintergrundmusik durch. Das folgende "Coulées" dreht als typischer Kreidler-Brocken endlich in gewohnter Stärke auf. Eine verführerische Höllenmaschine samt MG-Salven und spartanischen E-Gitarrentupfern, die in ihrer Modulation ein wenig an Scott Walkers Riffs auf "The Drift" erinnern.
Mit "Radio Island" bleiben Kreidler auf der kreativen Überholspur. Wildes Geklöppel, stoische Drums und ein konstantes Alarm-Clock-Fiepen feiern ein Soundgelage. So schön die Idee rein künstlerisch betrachtet ist: Das Quietschen des Endzeit-Weckers fällt einem auf Dauer heftig auf denselbigen. Der nervige Dauerton drückt alles sonstige tolle Gewusel in den Hintergrund und bleibt nach dem Hören noch minutenlang als Tinnitus-Echo im Hirn. Braucht man nicht so oft.
Das Finale "No God" kommt als Absage an den Klerikalfaschismus um die Ecke - konstante Bewegung treffen auf bedrückende, unheilsschwangere Tristesse, eingestreut als als hintergründige Quasi-Filmmusik. Am Ende bleibt das Fazit: Tolle Symbolik zwar, im Backkatalog aber nicht mehr als eine Fingerübung.
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