laut.de-Kritik

Ein Klassiker der Friedensbewegung.

Review von

Mit seiner dringlichen Intensität, authentischen Melancholie und textlichen Spiritualität ist George Harrisons "Living In The Material World" eines der außergewöhnlichsten Rock-Alben der Geschichte. Der Stellenwert dieser LP im Fab Four-Katalog hat sich offiziell als niedrig erwiesen, mir persönlich ist es das liebste Solo-Album eines Beatle. Der Beatles-typischste Tune erscheint mit "Try Some Buy Some" gegen Ende der Platte, hätte auf jedes Album der Liverpooler von "Rubber Soul" (1965) bis "Let It Be" (1970) stilistisch nahtlos gepasst, gleichwohl sich die Scheibe sonst maximal von der Musik der Band emanzipiert.

Wie so oft in der Historie nach der Trennung sind zwei Band-Mitglieder zusammen zu hören, nämlich der trommelnde Ringo und der slidende Autor aller Tracks, George. Auch Klaus Voormann, der mit Produzent George Martin, Manager Brian Epstein, Pressesprecher Derek Taylor und Pianist Billy Preston um den Status des 'fünften Beatle' wetteifern kann, mischt am Bass mit. Jim Keltner, einer der ruhmreichsten Session-Drummer, ist an Bord. In "Don't Let Me Wait Too Long" vernimmt man ihn zum Beispiel in einer wirkungsvollen Doppel-Drum-Besetzung: einem Schlagzeug-Duett Starr versus Keltner.

Auch sonst erweist sich die Platte in vielen Punkten sowohl als untypisch wie auch als Abrechnung mit der Rolle im Kreise der berühmtesten Band der Welt. "The Light That Has Lighted The World" traktiert das Thema des unangenehmen Umgangs mit dem Ruhm, den man als schüchterner, stiller Mensch nicht braucht. "There's so little chance to experience soul", klagt Harrison, und er adressiert direkt diejenigen, die sich mit der Auflösung der Beatles nicht abfinden wollten: "It's funny, how people just won't accept change". "Die meisten Menschen kämpfen um Ruhm oder Glück, Reichtum oder Macht - am Ende wird einem der Tod alles wegnehmen", meinte Harrison mal. "Ich schließe mich da selbst nicht aus, und oft schreibe ich diese Dinge auf, um mich selbst daran zu erinnern."

Im "Sue Me, Sue You Blues" fletscht er auf sarkastische Weise die Zähne, nachdem er sich in den Jahren 1971/72 viel beim Lesen von Anwaltsschreiben wiederfand. Sue heißt im Englischen verklagen. Paragraphen kamen nicht erst bei der "My Sweet Lord"-Plagiatsklage ins Spiel, sondern z.B. hinsichtlich seines Engagements in Bangladesch sowie wegen Paul McCartneys Bestreben, sich mit richterlicher Hilfe aus den Verpflichtungen gegenüber der Beatles-Firma Apple frei zu kämpfen - der EMI-Tochter, nicht dem Smartphone-Hersteller. By the way: Als Steve Jobs später (in heutige Kaufkraft umgerechnet) 60 Millionen Dollar Kompensation wegen der unerlaubten Namens-Aneignung an die Londoner Apple erstatten musste, hatte die Juristerei für Harrison einen Vorteil. Der Vorgang ist bis heute der Grund, wieso iTunes nicht Apple-Tunes heißen dürfen.

Insgesamt profitiert "Living In The Material World" viel von den Widerständen, gegen die Harrison prallte, die ihn inspirierten und deren weltlicher Materialismus mit seinen Trips in die Hindu-Religion kollidierte. Der Opener "Give Me Love (Give Me Peace On Earth)" setzt sich mit seiner Vorstellung von ewiger Wiedergeburt und Karma auseinander. Mehrere Songs (die Mehrzahl) sind - wie schon der frühere Hit "My Sweet Lord" - tief religiös. Manchmal bekommt gerade diese Religiösität eine politische Dimension. "The leaders of nations / they're acting like big girls", ätzt George in "The Lord Loves The One (That Loves The Lord)". Seinen Glauben an die Schöpfungsgeschichte und seine spirituelle Dankbarkeit untermauert er mit der Zeile "a Lord who provides us with all". Das Stück, überhaupt das Album, passt wie schon "The Concert For Bangladesh" oder John & Yokos "Give Peace A Chance" und "Imagine" in die Friedensbewegung.

Ûber "Give Me Love (Give Me Peace On Earth)" sagte Harrison, "Dieses Lied ist ein Gebet und persönliches Statement zwischen mir, dem Herrn und wem immer, der's mag." - Die einprägsame Hook "help me cope with this heavy load" ist der Kern dieses Gebets. - "Es war eine sehr emotionale Zeit für mich", so Harrison über die Monate nach dem von ihm initiierten Benefiz für Bangladesch. "Viele Menschen haben dazu beigetragen, dass dies zu einem Erfolg werden konnte - was mich (...) optimistisch stimmte. Gleichzeitig fühlte ich eine gewisse Ohnmacht und Wut in mir, denn (...) letzten Endes lag die Macht, die [Bangladesch-Krise] zu lösen, in den Händen der Regierungen und der führenden Politiker der Welt und damit in den Händen derer, die sie lieber für Waffen (...) verschwenden - Dinge, die die Menschheit zerstören."

Das schlicht formulierte Liebeslied "Don't Let Me Wait Too Long" plumpst aus der Reihung der kritischen und spirituellen Songs heraus. Durch seine Straightness und cleveren Einsatz von Piano und Percussion entsteht eine Mini-Rock-Operette. Deren Opulenz lässt ans Electric Light Orchestra denken und die drei Minuten Dauer wie sechs empfinden. Mit E.L.O.s Dirigent Jeff Lynne arbeitet George später, erst unter dem Pseudonym Nelson, dann als Spike Wilbury. "Don't Let Me Wait Too Long" schreibt bereits 1973 das Vorwort zu ihrer Supergroup Traveling Wilburys.

Der Longplayer "Living In The Material World" taktet mit einer Ballade auf. Jeder zweite Track ist eine. Für einen Beatle ist das unüblich, auch dadurch sticht die Platte heraus. Sie stöbert oft Versatzstücke der Americana-Musik im weitesten Sinne auf (Bayou-Rock, Blues, Country, Folk). Der "Sue Me, Sue You Blues" schrabbt Blues an der Dobro-Gitarre. "Be Here Now" ist unerwarteter Zeitlupen-Dream-Folk, "The Lord Loves The One (That Loves The Lord)" konfrontiert bratzige Bläser mit Southern Rock-Drive. Ein Bonus-Track, "Sunshine Life For Me (Sail Away Raymond)" bringt die Fiddle als Hauptakteur ein, in eine ekstatische Nummer. Der rare Tune klingt widerborstig, zugleich voller Groove.

Andererseits schwimmt das düstere Album - ob absichtlich oder unfreiwillig - auf der Welle des Softrock seiner Zeit, definiert, was niveauvoller Softrock ist. Die Charts der frühen, mittleren 1970er waren zu einem Drittel mit weichen, orchestralen Rockpop-Tönen gefüllt, und aus der ganzen Fülle überdauert dieses Werk als eines der wenigen von Substanz. Das liegt auch an seiner Aussage, seinem Anliegen, für Spiritualität und gegen Materialismus einzutreten, ein hehres Ziel. "Inmitten des tosenden Lärms der sozialen Medien", so teilt der Promo-Text zur Wiederveröffentlichung mit, "in einer Zeit, in der Meditation, Yoga und die so viel genannte Achtsamkeit wahrscheinlich noch nie so populär waren wie heute, decken sich die grundlegenden Punkte, die in den Songs angesprochen werden, mit der täglichen Suche nach dem, was wirklich wertvoll ist."

Erwachsen, reif, musikalisch und lyrisch souverän gegenüber der übermächtigen Beatles-Vergangenheit sendet dieses Album viel Charisma aus. Der längste und einzige härtere Song ist das Titelstück, ein beeindruckendes Amalgam. "Living In The Material World" ist zunächst mal ein Orgel-Stomper, dann eine Kreuzung aus Honkytonk-Country, Funk-Vibes und angejazzten Momenten. Von den Anfängen der Fab Four meilenweit entfernt ("Love Me Do"), transzendiert die vielschichtige Aufnahme die Basics eines Pop-Songs.

Mit der Stoßkraft von Bachman-Turner-Overdrive, der rhythmischen Eleganz Elton Johns, der Dramaturgie der frühen Genesis, dem Südstaaten-Feeling Dr. Johns und den bluesigen Harmonien der Allman Brothers rumpelt das aufgeladene Stück elegant, sofern man elegant rumpeln kann - hier klappt das irgendwie. Die Dynamik der leisen und lauten Phasen des Liedes ist in der Aufnahme "Living In The Material World (Take 31)" ausgeprägter, noch krasser, und die Drums dominieren mehr.

Mit allen Songs wird so verfahren, dass man sie hier in der Edition zum 50-jährigen Jubiläum in jeweils einer anderen Studiofassung - wir unterstellen: stets der besten - vergleichen kann. Oft sind diese Song-Abgleiche spitzfindig, aber die Masse der vielen Anläufe in den Apple Studios führt enorme Ausdauer vor Augen: Entweder war der Perfektionsanspruch riesig, um für einen "Who Can See It (Take 93)" zum 93. Mal auf den Record-Knopf zu drücken, oder das Material ist sehr schwierig.

Jedenfalls bezeugt das, was diese guten alten Zeiten der '70er-Konzeptalben so anders machte als manche Schnellschuss-Produktionen jüngerer Zeit: Gebuchte Studiozeit wurde sehr ernst genommen, und man rang geduldig um die beste Fassung eines jeden Tracks. Dabei hatte Harrison genug um die Ohren, als Gast bei Clapton und Co., unter unter diversen Pseudonymen wie L'Angelo Mistorioso oder George O'Hara, oder als Produzent namens P. Roducer.

Manche Takes mischen den Gesang deutlicher nach vorne, der auf dem finalen Album - wie es bisher in den Handel kam - im Gesamtklang eher sekundär wirkte. Dabei muss man im Vergleich zum flockig-netten Paul anerkennen, dass George stimmlich ein herausragender, technisch und expressiv wirklich ein sehr guter Sänger ist. Sein Falsett in "Don't Let Me Wait Too Long (Take 49; Acoustic)" unterstreicht dieses Talent exemplarisch. Meist würdigt man ja eher seine Künste an der Slide, siehe beispielsweise bei Minute 1'43" in "The Light That Has Lighted The World". So nutzten ihm seine ganzen Künstlernamen nie, um sich unsichtbar zu machen und von seiner Berühmtheit abzulenken. Denn seinen von der Sitar abgeleiteten Slide-Stil hört man überall sofort eindeutig heraus.

Das Album "Living In The Material World" erschien im Mai 1973, so dass weder Monat noch Jahr fürs Jubiläum passen, wenn jetzt die "50th Anniversary Super Deluxe"-Ausgabe erscheint. Es gibt sie in verschiedenen Vinyl-Farben, schwarz, purpur, orange und 'milky clear', als Doppel-CD und als Box-Set inklusive Doppel-BluRay-Audio ohne Bildmaterial. Vorteil der Doppel-Vinyls ist, dass man nicht nur eine Krishna-Malerei als Etikett-Druck auf der A-Seite angucken kann und eine kontrastierende Mercedes-Limousine auf der B-Seite, sondern auch den Apple-Studio-typischen aufgeschnittenen grünen Apfel (samt Kernen) auf der C- und D-Seite.

Erschienen war das Album schon in der ersten Auflage auf fünf Kontinenten, sogar in einer südkoreanischen, indischen und jugoslawischen Pressung. Die CD kam spät, erst 1991 in den Handel. Mehrere Neuauflagen gab es seither. Um diese neueste kümmerten sich nun Sohn Dhani Harrison und Witwe Olivia, Verfasserin der Liner Notes. Im Rahmen der Record Store Days kamen auch andere Alben Harrisons als Re-Prints 2024 heraus, "Cloud Nine", "Brainwashed", für das er posthum einen Instrumental-Grammy erhielt, das erste Solo-Album "Wonderwall Music" (1968) und das obskure "Electronic Sound" (1969), wo A- und B-Seite je ein monsterlanges Stück sind.

Unmittelbar nach der Trennung der Beatles hatte George Harrison zudem das 106 Minuten-Studioalbum "All Things Must Pass" veröffentlicht. Lizenzstreit zwischen den Labels und Vertriebspartnern rund um die "Concert For Bangladesh"-Triple-LP sind der Hintergrund für die harten Zeilen in "The Day The World Gets 'Round" "killing each other hand in hand - such foolishness in mind." - Damit meint der gärtnernde Beatle, wie egoistische Business-Interessen ein humanitäres Anliegen konterkarierten. Musikalisch ist "The Day The World Gets 'Round" eine Reprise sowohl auf den Opener "Give Me Love (Give Me Peace On Earth)" als auch auf Lennons "Across The Universe" von der letzten Beatles-LP. Der Sinfonie-Rock hier nimmt außerdem spätere Hits von Queen und Supertramp stilistisch vorweg.

Mit der neuen Auflage ging auch ein gründliches Remastering aller Tracks zugunsten von Georges Vocals einher. Zutreffend stellt das englische Magazin Uncut fest, "the album's peculiar air of dry, ascetic darkness increased." Durchs erneute Mastern "steigerte sich die eigenartige Stimmung trockener, asketischer Dunkelheit". Das längst vorhandene Juwel, stets underrated, wurde mit einem Mehrwert für Message und Sound veredelt.

Trackliste

  1. 1. Give Me Love (Give Me Peace On Earth)
  2. 2. Sue Me, Sue You Blues
  3. 3. The Light That Has Lighted The World
  4. 4. Don't Let Me Wait Too Long
  5. 5. Who Can See It
  6. 6. Living In The Material World
  7. 7. The Lord Loves The One (That Loves The Lord)
  8. 8. Be Here Now
  9. 9. Try Some Buy Some
  10. 10. The Day The World Gets 'Round
  11. 11. That Is All

CD1

  1. 1. Give Me Love (Give Me Peace On Earth)
  2. 2. Sue Me, Sue You Blues
  3. 3. The Light That Has Lighted The World
  4. 4. Don't Let Me Wait Too Long
  5. 5. Who Can See It
  6. 6. Living In The Material World
  7. 7. The Lord Loves The One (That Loves The Lord)
  8. 8. Be Here Now
  9. 9. Try Some Buy Some
  10. 10. The Day The World Gets 'Round
  11. 11. That Is All

CD2

  1. 1. Give Me Love (Give Me Peace On Earth) (Take 18; Acoustic)
  2. 2. Sue Me, Sue You Blues (Take 5)
  3. 3. The Light That Has Lighted The World (Take 13)
  4. 4. Don't Let Me Wait Too Long (Take 49; Acoustic)
  5. 5. Who Can See It (Take 93)
  6. 6. Living In The Material World (Take 31)
  7. 7. The Lord Loves The One (That Loves The Lord) (Take 3)
  8. 8. Be Here Now (Take 8)
  9. 9. Try Some Buy Some (Alternative Version)
  10. 10. The Day The World Gets 'Round (Take 22; Akustik-Version)
  11. 11. That Is All (Take 24)
  12. 12. Miss O'Dell (2024 Mix)
  13. 13. Sunshine Life For Me (Sail Away Raymond)

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