laut.de-Biographie
Lee Everton
Der Gedanke, die Wurzeln des warmen, satt tönenden Singer/Songwriter-Reggaes, dem Lee Everton das Etikett Slingstyle verpasst, könnten ausgerechnet nach Zürich reichen, drängt sich nicht gerade auf. Dabei hätte man vorbereitet sein können: Die Eidgenossenschaft erwies sich in der Vergangenheit schließlich wiederholt als überaus fruchtbarer Ackerboden, der bereits gar zauberhafte musikalische Blüten karibischen Flairs hervor gebracht hat.
Schon in seiner Kindheit verfällt Lee Everton der Musik. Besonders hat es ihm das Sammelsurium angetan, das sich in Ermangelung einer treffenderen Bezeichnung in der Schublade Black Music ansammelt. Seit seinem neunten Lebensjahr spielt er verschiedene Musikinstrumente und wirkt in unterschiedlichen Bands mit. Dass seine Leidenschaft längst mehr als nur ein Hobby für den jungen Zürcher ist, zeigt sich zu Beginn der 90er Jahre: Gerade 18 geworden, zieht es Lee 1992 nach Kingston, wo er ein Jahr lang die Jamaican School Of Music besucht. Jams mit Kollegen aus der Karibik sind hier an der Tagesordnung. Die gesammelten Eindrücke sollen den Everton'schen Stil nachhaltig prägen.
In die schweizerische Heimat zurück gekehrt, gründet Lee 1994 gemeinsam mit Freunden aus dem Gymnasium und von der Uni die Formation Sendak. Sieben Mann hoch, rufen die Jungs zum Kreuzzug wider die Langeweile auf und lassen dabei ihrem Faible für Jazz, Funk und vor allem für Hip Hop freien Lauf. Mehrere Jahre mischen Sendak als Pioniere in der eben erst im Entstehen begriffenen einheimischen Rapszene mit. Lee Everton steht als MC und Gitarrist der Crew bei über hundert Live-Shows in allen Winkeln des Landes auf der Bühne.
Drastische Erlebnisse gehen an den wenigsten Menschen spurlos vorüber. Ein Schock markiert 2001 auch in Lee Evertons Lebenslauf einen Wendepunkt. "Ich hatte nach einem Autounfall, der mich körperlich und geistig ziemlich durchgeschüttelt hat, eine musikalische Orientierungskrise", erinnert er sich im Interview mit reggae-town.de. "Die Rhythmen, die ich bis dahin gespielt hatte, entsprachen plötzlich nicht mehr dem Gefühl, das ich in meiner Musik ausdrücken wollte. Ich begann, mit Instrumenten und Rhythmus-Elementen zu experimentieren und fand nach einiger Zeit ein Muster, das für mich funktionierte. Das Ergebnis ist irgendwie Reggae und doch nicht Reggae. Ich würde sagen, es ist rhythmisch, organisch, rootsig und melodiös und verbindet Einflüsse aus Reggae, Soul, Folk, Pop und Blues."
Der neue Stil entsteht jedoch nicht über Nacht, sondern ergibt sich als Folge eines langen Selbstfindungsprozesses. 2002 bietet sich Lee Everton eine interessante berufliche Möglichkeit: Er ergattert einen Job als Assistenz-Toningenieur in den New Yorker Quad Recording Studios. Unter anderem ist er bei Aufnahmen von Künstlern wie Kanye West, Alicia Keys oder Celia Cruz mit von der Partie. Hier sammelt er wertvolle Erfahrungen, die sich bei der Durchführung seines nächsten Projektes als überaus nützlich erweisen. Für sich alleine begibt er sich während seiner Zeit in den Staaten ausgerüstet mit Gitarre und Laptop auf die Suche nach dem neuen, passenden Sound. Langsam kristallisiert sich aus dem anfänglich blinden Herumstochern in unterschiedlichsten Klangwelten sein charakteristischer Slingstyle heraus.
Wieder in Europa gelandet, zieht Lee Everton sein eigenes kleines Tonstudio auf, das ihm fortan die Lebensgrundlage sichert. Hier kümmert er sich in erster Linie um Künstler aus dem Rap-, Soul- und Reggae-Bereich. Neben zahlreichen anderen produziert er für Phenomden, Sektion Kuchikäschtli, Cali P, Seven, Griot, Big Zis, Dodo und Patrice. Sein Horizont beschränkt sich jedoch keineswegs auf die Schweizer Kollegen: Bei einem Workshop in Los Angeles lernt er Songwriterin Penny Framstad kennen. Ihr Angebot, ihm bei eigenen Titeln mit ihrer Erfahrung unter die Arme zu greifen, nimmt Lee Everton dankend an.
Zwar entstehen mit der Zeit etliche Nummern. Die Frage, ob er mit seinen Werken auch an die Öffentlichkeit treten möchte, wälzt ihr Urheber jedoch lange hin und her. "Es gibt eh schon so furchtbar viele Bands, die ihre Musik überall verbreiten", erklärt er sein Zaudern in einem Radio-Interview. Hauptsächlich dem unermüdlichen Zureden eines Freundes ist zu verdanken, dass der Schritt aus dem Schatten der Privatheit heraus schließlich doch erfolgt. Dieser ist kaum vollzogen, schon überstürzen sich die Ereignisse.
Lee Everton richtet eine MySpace-Seite ein, "I Feel Like Dancing" heißt der erste online gestellte Titel, der nicht nur zahllosen Fans, sondern auch den für das Programm des Radiosenders Coleur 3 Verantwortlichen überaus gut gefällt. Eine kurze Anfrage später läuft die Nummer erst bei Coleur 3, später bei DRS3, dem größten Schweizer Sender auf dem Rock- und Popsektor, rauf und runter. Was die Leute hören, wollen sie manchmal sogar kaufen: Eine Platte muss her. 2007 steht Lee Everton als erster Act aus der Schweiz beim deutschen Label Rootdown unter Vertrag.
Sein Debüt-Album mit dem beredten Titel "Inner Exile" erscheint in Zusammenarbeit mit befreundeten Musikern aus Zürich und Umgebung sowie unter tatkräftiger Mithilfe der Basler Scrucialists Anfang Oktober. Kritiker assistieren dem bärtigen Barden einen ganz eigenen Stil fernab aller Genre-Klischees. Dennoch sind Vergleiche rasch bei der Hand: Lee Evertons Songwriter-Reggae stehe im Geiste der beiden großen Bobs, Bob Marley und Bob Dylan. Sein Gesang beschwört Erinnerungen an die Stimme Van Morrisons geradezu herauf. Derlei Parallelen stören den Eidgenossen nicht: "Ich finde, Morrison ist einer der besten weißen Sänger und habe seine Platten oft gehört."
Gefühl, Melodie und Inhalt liegen Lee Everton gleichermaßen am Herzen. "Ich interessiere mich allgemein für unsere Geschichte und bin der Meinung, dass man seine Geschichte kennen muss, um die Gegenwart zu verstehen" - eine Einstellung, die sich in seinem Output spiegelt. "Mit 'innerem Exil' meine ich die Innenwelt, die ein Zufluchtsort für eigene Gedanken und Gefühle darstellt. Ich bin oft etwas introvertiert, kapsle mich von meiner Umwelt ab, um meinen Gedanken nachzugehen, meine Gefühle zu leben und mich gegen außen zu schützen. Das hört man meiner Musik wohl auch an. Es fließen verschiedene Stile ein. Das ist aber kein gezieltes Mischen. Ich bin gegenüber Crossover-Bands sogar eher etwas skeptisch eingestellt, weil sie oft beliebig und unverbindlich klingen. Ich versuche, meiner Intuition zu folgen. Ist das nun Songwriter-Reggae? Oder Soul-Reggae?"
Diese Frage möge jeder für sich selbst entscheiden. Seit 2007 tritt Lee Everton nach längerer Pause wieder live auf. Er spielt Solo-Akustik-Sets mit Gitarre, passend zur Album-Veröffentlichung Ende des Jahres aber auch etliche Band-Shows zusammen mit den Scrucialists, bei denen er auch an den Keyboards sitzt. Sein Credo wird bei jedem einzelnen Auftritt deutlich: Auch, wenn leise Melancholie seine Zeilen durchdringt, ist Lee Everton wichtig, dass seine Musik den Hörer nicht noch weiter runterzieht. "Ich will positive, aufbauende Musik machen." Mission erfüllt.
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